Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Słubfurt City als kosmopolitischer Ort

Forschungsbericht von Bianca Ludewig

 

 

INHALTSVERZEICHNIS

 

1. Forschungsfelder

   1.2 Słubfurt City / Nowa Amerika

   1.3 Nowa Amerika

   1.4 NSK Citizens Congress, Berlin

   1.5 Transeuropa Festival Cluj, Rumänien

2. 

   2.1 Selbstreflektion 

   2.2 Zentrale Begriffe und Themenkomplexe: Codingtabelle & Tagclouds

   2.3 Analyse der Themenkomplexe: Verbindungen und Interpretation

   2.4 Theorien und Diskurse 

   2.5 Erweiterter Kunstbegriff, soziale Plastik, Entideologisierung und Wirklichkeitskonstruktion

   2.6 Zu den Begriffen Kunst, Aktivismus, Netzwerke, Strategien

   2.7 Erweiterter Kunstbegriff & soziale Plastik:

   2.8 Entideologisierung und Wirklichkeitskonstruktion:

   2.9 Postsozialismus, Postkolonialismus und Raumtheori

   2.10 Zu den Begriffen Stadt, Raum, Grenze & Ost-West Dichotomie

   2.11 Raumtheorie:

   2.12 Postsozialismus & Postkolonialismus:

   2.13 Der historische und politische Kontext

   2.14 Zu den Begriffen Geschichte, Kultur, Identität

   2.15 Die Grenzen der Demokratie

   2.16 Zu den Begriffen Europa, Staat, Nation & Ökonomie

   2.17 Kosmopolitische Orte

3. Probleme und blinde Flecken im Projekt Słubfurt City

4. Schluss: Słubfurt City als kosmopolitischer Ort eines anderen Europas

Literatur, Quellen:

  1. Weiterführende Literatur:

  2. Quellen:

  3. Weitere Quellen:   

 

Słubfurt City als kosmopolitischer Ort

Forschungsbericht von Bianca Ludewig

 

 

Forschungsfelder 

 

Słubfurt City / Nowa Amerika

 

Es ist ein sonniger Tag Ende Mai als wir vor dem Bahnhof Frankfurt Oder stehen und uns Michael Kurzwelly begrüßt: „Das hier ist meine Berufskleidung, ich bin angestellt bei der Stadt Słubfurt als Stadtführer und gleichzeitig bin ich auch der Stadtarchitekt der Stadt Słubfurt. Die Stadt Frankfurt wurde ja in den letzten Kriegstagen von Hitler zur Festung erklärt und evakuiert und zum Kriegsende gab es hier nur noch etwa 400 Zivilisten in der Stadt und viele der ehemaligen Einwohner sind danach auch nicht mehr zurückgekommen, deshalb wurde die Stadt zu DDR Zeiten künstlich neu besiedelt; vor dem 2. Weltkrieg gab es ca. 50.000 Einwohner und zur Wende hatte Frankfurt ca. 89.000 Einwohner, die 100.000 Marke konnte man nicht überschreiten stattdessen schrumpfte die Stadt dann wieder bis auf unter 60.000. Das hat auch auf Frankfurter Seite zu einer Identitätskrise geführt.“ Kurzwelly erzählt, dass ähnliches auch für die Stadt Słubice gilt, „die bis zur Wende der Arsch der Welt war“, da die Grenze zwischen Ostdeutschland und Polen spätestens seit Solidarność und dem Ausnahmezustand 1982 nicht mehr zu überwinden war. Wir erfahren, dass Słubice vor dem 2. Weltkrieg die Frankfurter Dammvorstadt war. Aber man kann sich deshalb kaum auf eine gemeinsame deutsch-polnische Stadtgeschichte berufen, denn diese neue gemeinsame Geschichte beginnt erst nach dem 2. Weltkrieg.

 

Wie kann man trotzdem beides zusammen denken, wie können die deutsche und polnische Geschichte gleichberechtigt nebeneinander stehen?“ Fragt sich der Słubfurter Stadtführer: „Nach der Wende fühlten sich die Bewohner von Frankfurt und Słubice wenig heimisch und gerade die jungen Menschen verließen Frankfurt und Słubice. Wie geht man damit um? Wie können wir dem Stadtraum wieder ein Identitätsgefühl geben? Das war die Grundfrage der Stadtarchitekten von Słubfurt“, erzählt Kurzwelly.

Einige aus unserem Studienprojekt waren bisher nur selten oder gar nicht in Frankfurt Oder, und noch seltener in Słubice der polnischen Nachbarstadt auf der anderen Seite der Oder (wie ich selbst auch bis zu meiner Forschung). Wir wollen wissen, was mit der Viadrina Universität ist, ob sie auch eine integrative Funktion hat? Uns wird erwidert: „Gäbe es die Viadrina nicht, wäre es vielleicht gar nicht zu Słubfurt gekommen. Denn nur durch die Viadrina hat die Stadt auch eine Chance weiter in Zukunft zu existieren. Denn die Universität ist auch ein Bildungsstandort und nur so konnte der Grenzraum hier zu einer Forschungsaufgabe werden.“ Sehr gut, und wir sind dabei. Wir wollen auf der Słubfurt-City-Tour zur nächsten Station weiterziehen, als uns ein aufgebrachter Taxifahrer hinterher ruft: „Das hier ist nicht Słubfurt, das ist Frankfurt Oder und sonst gar nichts.“ Offenbar hat Słubfurt nicht nur Freunde in Frankfurt Oder. Wir müssen weiter und kommen zum Fledermausreservart, zum Jugendlichtspielhaus und schließlich zur Słubfurter Stadtmauer im Stadtteil Furt. Als wir den Ausführungen des Stadtführers lauschen, werden wir erneut durch eine pöbelnde Furterin gestört, sie rempelt an uns vorbei, obwohl genug Platz für alle da ist, wir wünschen ihr noch einen schönen Tag und lauschen weiter der interessanten Historie: „Die Mauer ist so gedacht, dass man so wie Romulus und Remus darüber hinweghüpfen kann, es geht ja nur um ein Zeichen, deshalb haben wir auch nur zwei Teilstücke gebaut, einen im Stadtteil Słub und den hier im Stadtteil Furt. Seitdem bieten wir das an, dass jeder, der eine Grenze will, auch so ein Teilstück erwerben und es durch sein Vorgarten oder Wohnzimmer laufen lassen kann. Die Stadtmauer ist beweglich: Definieren sie ihre Grenzen selber, wir warten auf ihren Anruf“.

 

Kurzwelly erzählt, dass es - im Gegensatz zur Blut und Boden Politik von Deutschland - ganz einfach sei ein Słubfurter zu sein. Er berichtet von dem Aufwand, den sein Sohn, der in Polen geboren ist, durchmachen musste, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen und das man daran sieht, dass das Land in dem wir leben doch nicht so frei ist, wie wir immer glauben. Und dass sich in Sachen Staatsbürgerschaft nicht viel geändert hat, seit dem 18. Jahrhundert. Aber: „Słubfurt ist da ganz anders: In Słubfurt reicht das Bekenntnis „ich bin ein Słubfurter“. Wenn sie das Gefühl haben, sie sind Słubfurter, dann reicht das und sie können umgehend Słubfurter werden und dann stolz sein.“

Zurzeit gibt es um die 600 offiziellen Słubfurter, das heißt, dass sie einen Słubfurter Personalausweis besitzen; wie viele allein durch ihr Bekenntnis Słubfurter sind, darüber gibt es keine Zahlen. Leider können wir auch keinen der begehrten Słubfurter Personalausweise beantragen, da das Passamt seit einiger Zeit nicht mehr mit den Anträgen nachkommt, weshalb zurzeit keine Anträge mehr entgegengenommen werden. Wir fragen den Stadtführer nach anderen bestehenden Grenzinterpretationen, worauf uns geantwortet wird: „Wir haben zwei Räume und eine Grenze; und eigentlich gibt es keinen Zwischenraum, denn die Grenze ist messerscharf. Aber tatsächlich ist es ja so im menschlichen Leben, dass es permeable Räume gibt und deshalb müsste man eigentlich auch den Begriff der Grenze neu definieren. Słubfurt besetzt den Grenzraum, ist ein Ort in der Grenze. Deshalb ist Słubfurt für alle, die sich dazwischen fühlen ein wunderbarer Raum.“

 

Wir machen einen weiteren Stopp beim Oderturm, bevor wir die „Brücke der Freundschaft“ und die Oder überqueeren. Dies ist der bisher unspektakulärste Ort: ein Einkaufszentrum. Aber auch dieser Halt hat seinen Grund: „Ich will einfach noch mal darauf hinweisen, dass wenn wir uns mit Räumen und vor allem Stadträumen beschäftigen, dann können wir das nicht außen vor lassen, dass die Tendenz dahin geht, dass es den Stadtraum eigentlich gar nicht mehr gibt. (…) Hier haben wir es mit einer Einkaufspassage zu tun. (…)  Was dadurch passiert ist, ist dass die Läden in der Innenstadt aussterben, also gar nicht mehr genutzt werden. Das virtuelle Stadtzentrum befindet sich jetzt hier drin. Im Stadtteil Słub werden wir sehen, dass es dort noch nicht so stark der Fall ist, dort gibt es noch viel mehr Einzelhandel. Aber die Tendenz geht auch in Polen in diese Richtung und wenn sie mal nach Poznań fahren, dann sehen sie dort gigantische Einkaufszentren in einer Größe, die es nicht mal in Berlin gibt, wo die Bedienungen mit Rollerskates fahren“.

 

Tatsächlich gibt es auf der anderen Seite im Stadtteil Słub noch mehr Einzelhandel, und auch viele Restaurants, wie das Restaurant „Odra“, wo wir das leckerste polnische Mittagessen bekommen. Kurzwelly erzählt von den Lebensrealitäten in Słub: „Auf polnischer Seite haben wir einen Boom und die Preise gleichen sich fast an, aber die Einkommen nicht, das ist immer noch bei ungefähr einem Drittel der deutschen Einkommen. Auf polnischer Seite muss man sehr viel mehr tun, um das gleiche Einkommen zu erzielen, während das, was man zahlen muss inzwischen fast das Gleiche ist.“ Er berichtet auch über weitere Słubfurt Aktivitäten wie das Słubfurter Grundgesetz, das Słubfurter Parlament, die Słubfurter Tageszeitung „Profil“, Słubfurt Radio, die Christlamisten, die Roadmap 2050, die Mediathek Słubfurta oder die Straßenumbennenungsaktionen in Słub und Furt, von einem geplanten zweisprachigen Kindergarten in Słubice und von der Erweiterung Słubfurts zu Nowa Amerika. Nach dem Essen zeigt er uns das polnische Studentenwohnheim in Słub, wo auch anfangs einige deutsche Studenten gewohnt haben, inzwischen ist das leider kaum noch der Fall. Wir gehen weiter zum Markt, wo es viel Spargel für wenig Geld gibt. Den Abschluss der Tour bildet ein Blick auf die Słuber Skyline (oder auch wahlweise auf die Furter) von der Dachterrasse des Collegium Słubfurticum, das von der Viadrina Universität und der Universität Adam Mickiewicz in Poznan betrieben und geleitet wird. Unser Blick schweift umher während Kurzwelly weitere Einblicke in die vielen Facetten von Słubfurt gibt: „Die Privatisierung des öffentlichen Raums ist auch ein spannendes Thema. Das ist sehr komplex und wir können alles hier nur anschneiden… Słubfurt ist natürlich auch eine Formel dafür, all diese Dinge in Frage zu stellen. Und vor allem das Spielerische und der Humor sind dabei wichtig, denn durch den Humor entideologisiert man die Dinge.“ Voller Eindrücke verlassen wir erst Słub, und durch queeren noch einmal Furt bevor wir schließlich wieder im Zug Richtung Berlin sitzen. [1]

 

Słubfurt ist also die erste Stadt, die je zur Hälfte in Polen und in Deutschland liegt, deshalb ist Słubfurt keine transnationale Stadt, denn für den Słubfurter oder die Słubfurterin gibt es Kategorien wie Deutschland und Polen nicht mehr. Słubfurt wurde 1999 als Kunstprojekt von Michael Kurzwelly ins Leben gerufen: „Der Initiator Michael Kurzwelly behauptet mit „Słubfurt“ eine transnationale Stadt – die es in Frankfurt und Słubice de facto nicht gibt – und schafft mit künstlerischen Mitteln Fakten. Er organisiert über Jahre hinweg Eingriffe in den öffentlichen Raum und bezieht dabei möglichst viele Institutionen und Bewohner der Grenzstädte ein“[2]. Kurzwelly nimmt seit 2004 auch einen Lehrauftrag an der Europa-Universität Viadrina wahr, durch den er das Projekt Słubfurt, „an der Grenze zweier Länder, die es nicht gibt“ vorantreibt. Die von ihm entwickelte Strategie, Räume neu zu interpretieren und in sie hinein zu intervenieren, nennt er Wirklichkeitskonstruktionen[3]. Im Netzwerk Arttrans, dessen Mitbegründer er ist, sollen neue Strategien von räumlichen Wirklichkeitskonstruktionen erdacht und erprobt werden.

 

Die Stadt setzt sich zusammen aus den beiden Stadtteilen Słub und Furt, die rechts und links der Oder liegen. In Słubfurt herrscht ein besonderes Mikroklima im Dazwischen der Kulturen - hier wird polnisch, deutsch, englisch und natürlich Słubfurtisch gesprochen. Słubfurt ist auch die Kulturhauptstadt der grenzüberschreitenden Region "Lebuser Ziemia", die sich von der Warthe bis zur Spree zwischen Gorzów, Zielona Góra, Gubien, Fürstenwalde und Küstrzyn erstreckt.[4] Das periphere Einzugsgebiet von Słubfurt, NOWA AMERIKA, reicht allerdings von Poznań im Osten bis nach Berlin im Westen, Szczettin im Norden und Dresden im Süden. So eröffnet NOWA AMERIKA als Wirklichkeitskonstruktion „den Raum für einen langjährigen Prozess, in dessen Verlauf laborartig neue Strukturen und Ideen für den Grenzraum durchgespielt werden können. Der doppelbödige Humor spielt dabei eine ganz wichtige Rolle, denn er hebt unsere Aktionen aus der Schwere einer geschichtlich belasteten Region in die Leichtigkeit, mit der wir nun die Grenze lächelnd wegtanzen können.“[5]

 

Nowa Amerika

 

Nowa Amerika wurde am 20.März 2010 auf einem konspirativen Treffen gegründet. Es handelt sich um eine Föderation, die sich aus den vier Teilstaaten Szczettinstan, Terra Incognita, Lebuser Ziemia und Schlonsk zusammensetzt. „Nowa Amerika bietet allen Pionieren und Freiheitshungrigen die Chance, die Geheimnisse unserer 4 Staaten zu entdecken und ihre Eigenarten und Traditionen kennen zu lernen“.[6]

Ein erstes Ausprobieren und Erkunden der neuen Areale fand im Rahmen der Nowa Amerika Tours Mitte Mai 2011 statt, wo ich an drei Tagen der fünftägigen Tour dabei war und viele Gespräche führte. Die 50 TeilnehmerInnen waren zwischen 14 und 65 Jahren, viele sprachen Polnisch, andere Deutsch oder Englisch oder von jedem ein bisschen. Die folgenden Auszüge, sollen deutlich machen, was es mit Nowa Amerika in den Augen der Teilnehmer, die zum großen Teil auch Mitgestalter sind, auf sich hat.

So denkt der Künstler Kai aus Görlitz, dieses Gebiet  könnte in der kommenden Krise „eine Art Vorreiter Region sein, wo man versucht die Regeln neu zu schreiben“. Er findet auch die Organisationsform von Nowa Amerika gut. „Zu sagen: so sehen wir das und wer das auch so sieht, gehört dazu. Dann gibt es auch eine schöne Migration, von West nach Ost und Ost nach West.“ Kai gehört zu den wenigen, die von West nach Ost migriert sind, denn „als ich vor fünf Jahren hierher kam merkte ich, dass ich hier die Dinge finde, die mir im Westen komplett gefehlt haben. Dieses nicht ganz perfekte und die Präsenz einer nicht genau zu fassenden Geschichte.“ Für Kai ist das Potential von Nowa Amerika ganz offensichtlich: „Im Internet habe ich schon vorher heraus gefunden, dass Landesgrenzen heute nicht wichtig für den Austausch sind. Deshalb finde ich auch diese Nowa Amerika Sache so toll, weil ich eigentlich damals das Transnationale im Kopf hatte. Man muss sich mit Gleichgesinnten verbünden und ein horizontales Land der gemeinsamen Interessen gründen.“

 

Magda Zietkiewicz ist eine der vier KoordinatorInnen der Nowa Amerika Tours und Mitbegründerin von Nowa Amerika und dem Verein Terra Incognita. Nachdem sie lange in Deutschland gelebt hatte, wollte sie nicht nach Poznań zurück, sondern sich in der Grenzregion niederlassen, da sie zweisprachig lebt und in beiden Ländern aktiv ist. Sie und ihr Mann machen viel in der Region, was viele Bewohner der Region nicht nachvollziehen können: „Wir sehen das ganz anders als die Einheimischen, die sich oft nicht mit der [deutschen] Vergangenheit beschäftigen wollen. Aber man muss versuchen, die Menschen zu überzeugen. Mein Mann arbeitet in Chojna in einem Informationszentrum zur Geschichte des Ortes und in Internetforen wird er oft als Germanisator bezeichnet: ‚Herr Konopka ist hier hergekommen, um unsere Gemeinde zu germanisieren’.“ Magda erzählt, dass die meisten Menschen, die hier etwas gestalten, so wie sie selbst, erst als Erwachsene hierher gekommen sind, obwohl „die Leute, die hier geboren sind, hier auch keine Vergangenheit haben, denn ihre Eltern kamen nach dem 2. Weltkrieg aus den östlichen polnischen Gebieten und wurden hierher umgesiedelt. Wir meinen eben, dass das Land hier für uns alle noch unbekannt ist, wir wollen es entdecken und besser kennen lernen.“ Magda ist Lehrerin, unterrichtet auch Polnisch und Deutsch und hat einige ihrer Schüler auf die Tour mitgenommen, denn sie glaubt, dass es vor allem für Jugendliche wichtig und möglich ist, „diese Vorurteile abzubauen“, denen sie so häufig begegnet ist. Für sie war es schön zu sehen, dass sich doch noch andere mit der deutsch-polnischen Geschichte in der Grenzregion beschäftigen: „Wir müssen uns alle besser kennen lernen und mehr zusammen machen.“

 

Dagmar Kaltenhäuser ist Biologin und lebt seit einigen Jahren in der Grenzregion, sie hatte erst kürzlich von Słubfurt und Nowa Amerika erfahren und das Projekt hat sie sofort beeindruckt, weil „man hier versucht, diese nationalen Festlegungen aufzubrechen und etwas Neues zu finden, vielleicht auch eine neue Form des Zusammenlebens zu gestalten. Und auch der Humor hat mich angezogen, dass es alles nicht so bierernst aufgezogen ist“. Gleiches gilt für Dorothea Braemer, sie ist Filmemacherin und kommt ursprünglich aus Brandenburg, lebt aber seit 30 Jahren in den USA. Sie hat vor Ort an einer Dokumentation über Kunstprojekte in Brandenburg gearbeitet. Sie hat sich und ihren Interviewpartnern auch die Frage gestellt, ob Nowa Amerika ein Kunstprojekt oder ein gesellschaftliches Projekt ist? „Ich habe Michael noch mal darauf angesprochen, der dann meinte, das könne ja ruhig in der Schwebe sein und müsste nicht festgelegt werden. Und ich denke, dass das auch etwas ist, was gute Kunst ausmacht: dass es nicht so eindeutig ist und man deshalb auch darüber nachdenkt.“ Ebenso identifiziert Dorothea das Thema Grenze als zentral für Nowa Amerika. „Auch dieses Ost-West Gefälle ist ein wichtiges Thema: Es waren ja auch mehr Polen auf der Reise, die meistens Deutsch sprechen konnten, während die Deutschen oft kein Polnisch konnten. Daran hat sich auch schon diese Arroganz bemerkbar gemacht, dass wir Deutsche uns als Mitteleuropäer sehen und alles was östlich davon ist als Osteuropa definieren. Dabei stimmt das gar nicht, denn Polen ist eigentlich die Mitte von Europa. Das ist mir auf der Nowa Amerika Tour so richtig klar geworden.“

Dorothea stellt auch fest, dass nicht alle der regionalen Geschichten, die uns erzählt und gezeigt wurden, real waren - denn einige waren erfunden. Wodurch sie für Dorothea aber der Realität auf andere Weise viel näher kamen. Denn es geht darum, „das Existierende infrage zu stellen. Was uns so immer alles erzählt wird, wie eben dass dies oder jenes die Geschichte unserer Identität ist: Also wir sind Deutsche, weil dies und das war, das ist konstruierte Geschichte. Und es gibt reale Geschichten, die sonst gerne unter den Teppich gekehrt werden, wie im Falle der jüdischen und deutschen Grabsteine. Das tragischste Beispiel war dieses verschimmelte Holocaust Museum in Sonnenburg/ Słońsk. Ein vergessenes Holocaustmuseum mit Bildern von ermordeten Juden in verschimmelten Vitrinen. Andere Geschichten wurden wieder ausgegraben, wie die Geschichte von Nowa Amerika, die ja auch ein historisches Pendant hat und von Friedrich dem Großen kommt.“

 

Der Akademiker Przemek Jackowski fand es toll, „mal eine Reise von Norden nach Süden zu machen, weil ich mich bisher eher auf der Achse Ost-West bewegt habe“. Jackowski betreibt eine Internetseite mit Kulturtipps für Stettin auf Deutsch, denn es ist komisch, dass auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze „Parallelgesellschaften“ existieren: „die eine Seite weiß nicht, was die Andere macht“. Nowa Amerika ist in seinen Augen sehr wichtig, „weil wir nicht gelernt haben zu sehen, was in unserer nächsten Umgebung ist. Wir haben alle möglichen Reiseziele in der ganzen Welt, aber man weiß nicht, was eigentlich im Nebenzimmer los ist.“ Aber genau darin liegt für ihn die Herausforderung und auch der Entdeckungscharakter der Initiative: „So wie diese Mühle, die wir heute gesehen haben, das war wirklich ein Geheimtipp. Ich fand das unfassbar, dass es noch solche alten Mühlen gibt, die noch in Betrieb sind, wo man noch die ganzen Funktionen mit dem Auge sehen kann. Hundert Jahre alte Geräte, die noch funktionieren. Dagegen ist Disneyland nichts.“

Klaus Pocher kommt aus Guben/Gubin und war Koordinator der Nowa Amerika Tours für Schlonsk. Er hat Guben nach seiner Jugend verlassen und ist zur Grenzöffnung zurückgekommen, da es zu der Zeit „ganz visionäre Ansätze von einer gemeinsamen Stadt gab und das hat mich irgendwie angesteckt“. Die Grenzsituation sah er plötzlich als eine Situation der Synergien und Möglichkeiten. Seine Hoffnungen haben sich aber nur teilweise realisiert, da der kulturelle Austausch größtenteils auf einem Austausch von Traditionen beruht: „Wie wird bei den anderen Weihnachten oder Ostern gefeiert? Und das dann jedes Jahr. Ich habe das Gefühl, man bewegt sich hier nicht richtig von der Stelle. Ich wollte lieber Sachen machen, die in die Zukunft weisen und den Leuten Impulse geben. Ich bin kein Künstler, aber der Ansatz von Nowa Amerika geht schon in diese Richtung.“ Nowa Amerika steht für ihn in erster Linie „für eine Suggestivkraft. Denn wir sind so etwas wie Kulturschauspieler. Im polnischen heißt „aktor“ sowohl Schauspieler als auch Akteur und das trifft es eigentlich ganz gut. Wir spielen den Anderen etwas vor, was so de facto ja noch gar nicht vorhanden ist und versuchen so andere mitzureißen und Leute damit anzustecken, den Humor daran auch zu verstehen.“

 

Bartosz Wójcik ist Künstler aus Stettin und Mitorganisator, sowie Mitbegründer von Nowa Amerika. Er nimmt Nowa Amerika als außergewöhnliches Gebiet war, denn: „Egal auf welcher Seite der Grenze man lebt, man ist automatisch mit der anderen Seite verbunden.“ Für ihn ist Nowa Amerika ganz klar ein Kunstwerk, eine Ansicht, mit der er keine Definitionsmacht verbindet, denn Nowa Amerika „sollte von den Teilnehmern so aufgefasst werden, wie sie das wollen. Als Freizeitgestaltung oder als Psychotherapie, da gibt es sehr viele Möglichkeiten.“ Eines ist für Wójcik aber vollkommen klar: „Dies ist die Entstehungsgeschichte von einem Netzwerk.“

 

Słubfurt und Nowa Amerika sind aus verschiedenen Gründen spannend für unser Projekt „Andere Europas“. Am offensichtlichsten wird hier zunächst eine Utopie von Europa, ähnlich wie bei NSK State,  die direkt in die Tat umgesetzt wird, was Kurzwelly als „angewandte Kunst" beschreibt[7]. Und zwar die Utopie eines transnationalen Europas mit transnationalen Städten, wo Grenzen innerhalb Europas – in diesem Fall zwischen Polen und Deutschland - lächelnd ignoriert und weggetanzt werden. Damit sind nicht nur die geografischen Grenzen gemeint, sondern vor allem die Grenzen in den Köpfen der Bewohner, die aus Vorurteilen, Ängsten und einer belasteten gemeinsamen Geschichte von Krieg und Vertreibung gewachsen sind. Grenzen sind immer problematisch, sorgen für Konflikte. Diese räumlichen und symbolischen Interventionen sind bei Kurzwelly eine Strategie, „die gesellschaftliche Probleme fokussiert, in sie eingreift und sie in eine andere Wirklichkeitskonstruktion transzendiert“. Wie auch beim NSK State, auf den ich gleich noch zu sprechen kommen werde, werden hier künstlerische Werkzeuge genutzt, um eine „neue Realität in den Köpfen der Menschen entstehen zu lassen." Das Projekt Słubfurt hat viele Facetten und Unterprojekte. Man könnte Słubfurt als Teil eines Netzwerks für Raumumordnung deuten wo mit Vorliebe an den Grenzen bekannter Ordnungsmuster und in Zwischen-Räumen geforscht und interveniert wird, wie bei Arttrans zu lesen ist.[8] Mit Hilfe von künstlerischen Strategien soll die soziale Imagination herausgefordert werden. Mit Słubfurt und Nowa Amerika entstehen alternative Visionen einer umstrittenen europäischen Gegenwart, die gleichzeitig eine gemeinsame und von Problemen belastete deutsch-polnische Geschichte thematisieren und die Öffentlichkeit zur Partizipation auffordern.

 

 

NSK Citizens Congress, Berlin

 

Im Oktober 2010 fand in Berlin der 1st NSK[9]-State Citizen Congress statt, an dem wir beobachtend, aber auch kollaborativ (in Form eines Vortrag-Inputs für die Delegierten) teilnahmen. Daraus entstand auch eine Publikation zum Kongress, wo wir vertreten sind. In meinem Teil beschäftige ich mich mit den Strategien von NSK-State, ungewollten Nebeneffekten (z.B. Nigeria Issue) und stelle die Frage danach, welche Bedeutung NSK-State im Rahmen von Popkultur zukommt und zukommen könnte: „The NSK toolbox is in large parts supplied by the world of art and popular culture but also by political strategies and symbols that refer often to the dark sides of European history. The use of strategies from the art world and the use of humour are the elements that outline NSK as a heterotopian escape for me. Heterotopian because it manifests in time not territory but also in the “real” world: in the internet, in artwork, in events and in effects that are very much real. In formulating semiotic resistance, media-heterotopias, theory-fiction, imagined worlds or militancy of communication Neue Slowenische Kunst has build the basis for the NSK-State as a heterotopic space”[10]. Die von mir angeführten Strategien identifiziert auch Anita Moser als zentral, sie werden ebenso von der Kommunikationsguerilla, einem weiteren politischen Kunst-Kollektiv praktiziert: „Die „imaginären Brigarden der Kommunikationsguerilla“ sind weitgehend nicht in Netzwerken organisiert und verbunden. Was sie jedoch verbindet, ist eine „spezifischer Stil politischen Handelns, der sich aus einem wachen Blick auf die Paradoxien und Absurditäten der Macht speist und diese im Spiel mit Repräsentationen und Identitäten, mit Verfremdung und Überidentifikation zum Ausgangspunkt politischer Interventionen macht“ (Moser 2011: 96. Interne Zitationen: Kommunikationsguerilla).“

 

NSK-State ist ein virtueller Staat in der Zeit, der 1992 als Folge der Unabhängigkeit Sloweniens gegründet wurde und er wird von seinen Initiatoren ebenfalls als ein Kunstprojekt aufgefasst. Die Ereignisse haben aber auch gezeigt, dass ein Kunstprojekt schnell an seine definitorischen Grenzen stößt, wenn es durch Dynamiken und Teilnehmer in die Realität überführt wird. Dies geschah unter anderem durch eine „dritte Art der Überidentifikation“[11] von nigerianischen NSK-Bürgern. Zum Forschungsfeld Słubfurt gibt es hier zahlreiche Überschneidungen. Zunächsteinmal sind beides Kunstprojekte, die sich nicht nur auf den Raum der Kunst beschränken, sondern ihn punktuell verlassen und freiwillig oder unfreiwillig in Berührung, manchmal auch in harte Konfrontation (Nigeria Issue) mit der sozialen Realität und der Realpolitik kommen. Beide Projekte nutzen ähnliche oder verwandte Strategien (Konzepte, Begriffe, Methoden) um ihre künstlerisch-politischen Ziele zu verfolgen (z.B. Humor, Provokation, Intervention, Mimikry, Überidentifikation, erweiterter Kunstbegriff, Konzept der sozialen Plastik, Entideologisierung, Wirklichkeitskonstruktionen).  

 

So verweisen beide Projekte auf eine politisch-gesellschaftliche Utopie des Staates (NSK-State Passport, Słubfurt City Personalausweis), die gleichzeitig auch eine Kritik an Staat und Gesellschaft beinhaltet, die aber nicht direkt ausformuliert wird, worin zu großen Teilen ihr subversives Potenzial liegt: „Sie [die Strategie von Laibach[12]] „frustriert“ das System (die herrschende Ideologie), gerade insofern sie keine ironische Nachahmung, sondern eine Überidentifikation mit ihm darstellt – indem sie die obszöne Über-Ich-Kehrseite des Systems an den Tag bringt, setzt die Überidentifikation seine Macht außer Kraft“. (Žižek 2008: 163/164) Žižek spricht hier von einer „anderen politischen Strategie“, die in der Lage ist, sich die Macht des Phantasma anzueignen. Es geht also auch um politische Strategien, die mit Hilfe der Kunst erprobt werden. Was Žižek Laibach attestiert, gilt auch für Słubfurt, denn viele „verkennen dabei aber den Umstand, dass die Gruppe nicht als Antwort, sondern als Frage funktioniert“  (Žižek 2008: 164).

 

Zunächst lässt sich das Forschungsvorhaben in zwei zentrale Thematiken einteilen: Kunst und Politik. Einer der Delegierten des NSK Citizen Congress machte folgende Äußerung: “There is a deliberate ambiguity in the organisation of NSK-State as well. It opens up a question about what the engagement of NSK citizens is in the State? Whether it is a space for those who are being politicized – and I think there are people coming in that are being politicized, and that’s a good thing. Or whether it operates as a space for those who want to escape politics? Those who have been through political action and now look to this as an open neutral space”. Auch dies gilt, wie ich meine, ebenfalls für das Engagement bei dem Projekt Słubfurt City. Einer der Unterschiede ist allerdings, dass während ich den NSK-Staat als „heterotopischen Ort“ oder Projekt mit heterotopischen Eigenschaften in genannter Publikation begreife, es sich bei Słubfurt City um einen kosmopolitischen Ort handelt, wie ich noch zeigen werde. Ich denke, in beiden Projekten kann man sowohl heterotopische Elemente, wie auch kosmopolitische Eigenschaften finden. Ich deute den Wechsel der Begriffe, als einen Wechsel innerhalb dieser beiden Ausrichtungen, die auch viele Überschneidungen haben. Nachdem einige Monate vergangen waren und neue theoretische Einflüsse, sowie neues Material aus dem Feld hinzugekommen sind, verstehe ich Słubfurt als den Versuch zur Schaffung eines kosmopolitischen Ortes, was für mich eine konkrete Beschreibung seiner Beschaffenheit und Dynamik darstellt.

 

Die Realpolitik Europas unterlag im 20. und vor allem im beginnenden 21. Jahrhundert gravierenden Veränderungen; ebenso hat sich auch die Kunst verändert, wie Moser ich ihrem Buch zur postkolonialen Kritik im Spannungsfeld von Kunst und Politik formuliert:  „Die Kunst des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch die sukzessive Hinwendung zum Publikum und die Ablösung des traditionellen (Kunst-) Werkes durch die „ästhetische Situation“ aus.“ (Moser 2011: 11) Künstlerische Praktiken, die man mit Begriffen wie Interventionskunst, Kunst im öffentlichen Raum, Partizipationskunst, Community Art oder Relational Art zu erfassen versucht, können im deutschsprachigen Kunstfeld der letzten Jahrzehnte als Paradigmenwechsel gedeutet werden: „Mit der Entdeckung der Wirklichkeit bzw. des Alltags und der Hinwendung zum Publikum geht die Betonung des Politischen in der Kunst einher.“ (Moser 2011: 15). Auch die Kunst von NSK verweist auf eine Kunst, die nicht direkt konsumierbar ist, was viele Menschen, einem Delegierten zufolge gar nicht mehr kennen. Ähnliches gilt für das Słubfurt-City Projekt, was sogar dazu führte, dass man Michael Kurzwelly auf bürokratischer Ebene nicht mehr als Künstler in der Region wahrnahm. So sieht Žižek, ein zentrales Problem darin, dass heute vor allem ein Mangel an utopischer Vorstellungskraft herrscht[13]. Und Moser sieht den dringenden Bedarf, sich auf herausfordernde Gegendiskurse einzulassen, denn heute „wird die Fähigkeit benötigt einen Raum zu denken und dabei zu schaffen, der unmöglich erscheint“ (Moser 2011: 11).  

 

Transeuropa Festival Cluj, Rumänien

 

Ein weiteres Teilprojekt unseres Studienprojekts, das auch für mein Forschungsvorhaben Relevanz hatte, war eine Exkursion nach Cluj, Rumänien, wo wir im Mai 2011 am Transeuropa Festival teilnahmen. Die gemeinsame Idee, die Europäisierung und ihre Folgen an den Rändern der EU zu betrachten, statt sich in das Transeuropa Festival in Berlin, Paris oder London einzubringen, war einen gute und erkenntnisbringende Entscheidung. So sind die Konsequenzen des entfesselten, neoliberalen Kapitalismus dort viel offensichtlicher.

 

Der Orientalismus Diskurs des 19. Jahrhunderts formte die Kategorien von Ost und West Europa “and made policies of demarcation from “the Orient” an important strategy of geopolitical and cultural identification with Europe”. (Boatca: 91) So gehörte Rumänien zum einen Teil (Transylvanien) zum Großreich Österreich-Ungarn, während alles süd-östlich der Kaparten unter dem Einfluss des Osmanischen Reichs stand. Für den Osten Europas bedeutet das heute “being recast into the geographic mold of the old European subdivisions of Central, Northern, Southern Europe and the Balkans, along with the historical claims to power as well as cultural and racial identity underlying them.“ (Ebenda: 97) In Bezug auf Orietalismus und die akute Islamophobie des Westens greift Boatca hier einen wichtigen historischen Unterschied zwischen der Situation in Mitteleuropa (Polen) und Süd-Ost Europa (Rumänien) auf, den ich hier nicht weiter ausführen kann, aber zumindest andeuten will.

 

Aber vieles was sich unter dem Begriff Ost-West-Dichotomie (der im Weiteren noch zentral sein wird) innerhalb des Projekts Słubfurt und dem darin zentralen Verhältnis von Deutschland und der EU zu Polen zeigt, offenbart sich ebenso in dem Verhältnis der EU zu Rumänien. Böröcz (2001) nutzt für die Beschreibung dieser neuen, alten Verhältnisse den Begriff “contiguous empire”, der die kolonialen Verbindungen der Europäischen Union mit seinen Anwärtern charakterisiert (Boatca: 99). Boatca unterscheidet zwischen „detatched colonial rule“ und „spacial contiguity“: “Against this background, the discourse of “Europeanization” applied to countries with a century old European cultural and social tradition (from Poland and the Czech Republic to Hungary and Romania) conforms to this very logic. (…) it reinstrumentalizes the Orientalist imagery to imply that distance from the Orient and represents the underlying yardstick by which standards of modernity and civilization are measured” (Boatca: 99/100). Dieser Themenkomplex verweist auf notwendige Theorie-Diskurse aus den Bereichen des Postsozialismus und Postkolonialismus, auf die ich später noch näher eingehen werde. Zunächst werde ich mich aber genauer mit den Begriffen beschäftigen, die aus der Analyse des Interviewmaterials hervor gegangen sind.

 

Selbstreflektion 

 

Um diese neuen Formen eines Rechts-Populismus effektiv zu bekämpfen, muss man den kritischen Blick zurück auf sich selbst lenken und den liberal-demokratischen Universalismus sich selbst zur kritischen Untersuchung vorlegen.“ (Žižek 2006: 200)

 

Eine kritische Selbstreflektion beinhaltet natürlich die Feststellung, aus einer hauptsächlich weiß-dominierten Wissenschaft und einer weißen, hegemonialen Gesellschaft heraus, mit der Privilegien einhergehen, ein Forschungsfeld zu untersuchen, dass nicht ganz so „weiß“ ist wie man selbst. Und dabei auch einem in uns eingeschriebenen „Western Gaze“ zu folgen. Dieser ist Teil unserer Sozialisation, unserer Mythen und Muster, die uns beständig beeinflussen. Auch wenn wir hoffen, uns davon zumindest punktuell frei machen zu können. In Bezug auf das Thema unseres Studienprojekts „Andere Europas“ ist der von Žižek oben vorgeschlagene Weg vor allem sinnvoll, wenn es um eine Selbstreflektion des eigenen Standpunkts geht. Auch ich bin Teil einer Geschichte des liberal-demokratischen Universalismus, und dies gilt mitnichten nur für die Vergangenheit. Für die Analyse meines Forschungsvorhabens im Rahmen der Thematik unseres Studienprojekts, wird ein kritischer Blick auf den liberal-demokratischen Universalismus des Westens und damit meiner eigenen „Vernebelung“ nicht ausbleiben dürfen.

Michal Buchowski hat etwas Zentrales an der Selbstreflektion in diesem Feld in seinem Artikel „Das Gespenst des Orientalismus in Europa“ auf den Punkt gebracht:

Parallel zu dem Prozess der Konstruktion der Identität, ein Prozess, an dem wir aktiv teilhaben, erscheint die Stufe einer post-kulturalistischen Anthropologie erreichbar, wenn wir uns stets bewusst machen, dass unser Schreiben nicht nur Menschen und die Orte, an denen sie leben, beschreibt, sondern auch an deren Konstruktion mitwirkt. Deshalb sollten nicht nur »sie« problematisiert werden, sondern auch »wir« gehören in den Fokus unserer eigenen Untersuchung.“ (Buchowski: 17)

 

Weiterhin kann und möchte ich hier nur andeuten, dass ein psychoanalytischer Blick auf die eigene ethnologische Arbeit, wie er zum Beispiel von Žižek aufgezeigt wird, mit weiteren Selbstreflektionen verbunden sein muss, wenn es darum geht den eigenen „exzessiven Genuß“ oder „Narzismus“ an einer Forschung aufzudecken.

 

 Zentrale Begriffe und Themenkomplexe: Codingtabelle & Tagclouds

   

Die ermittelten Codes stammen aus Interviews, die im Zeitraum vom Januar 2011 und September 2011 geführt wurden, und zwar mit folgenden Personen: Michael Kurzwelly (Initiator Słubfurt, Künstler, Frankfurt Oder/Słubice), Roland Schefferski (Słubfurt Aktivist, Künstler, Berlin) Jan Poppenhagen (Słubfurt Aktivist, Fotograf, Berlin) Michael Haerdter (Kurator und Kunsttheoretiker, Botschafter von Słubfurt in Berlin), Dorothea Braemer (Filmemacherin, Nowa Amerika Forscherin, BRD/USA), Marie Kuhn (Filmassistenz, Berlin),  Magda Zietkiewicz (Koordinatorin Nowa Amerika, Verein Terra Incognita, Lehrerin, Chojna), Klaus Pocher (Koordinator Nowa Amerika Tours (NAT), Akademiker), Bartosz Wójcik (Künstler, Stettin, Mitorganisator NAT), Dagmar Kaltenhäuser (Teilnehmerin NAT, Biologin, Berlin/Uckermark), Przemek Jackowski (Teilnehmer NAT, Akademiker, Stettin, Portal www.nachstettin.com), Jolanta Reimann (Słubfurt Aktivistin, Frankfurt Oder/Słubice) Frau Hoffmann (Bewohnerin der Grenzregion, Verwaltungsangestellte), Kai aus Görlitz (Künstler, Mitgestalter der Haltestelle Görlitz NAT).

 

Insgesamt wurden 14 Interviews geführt, die in der Länge zwischen 1 bis 10 Seiten variierten. Insgesamt umfasst das Interviewmaterial 50 Seiten (Arial 12, kein Zeilenabstand). Ich habe 42 Begriffe verschlagwortet, die meisten Begriffe haben sich aus einer Tagcloud verwandter Begriffe und Umschreibungen gebildet. Nur jeweils einer der genannten Begriffe ist in die Zählung eingegangen, also jede Person und jeder Begriff/Unterbegriff zählt nur einmal; wobei ich jeden neuen verwandten Begriff, der in einem der Interviews auftauchte, in die Tagcloud aufgenommen habe.

 

Dazu hier exemplarisch drei Beispiele:

 

Grenze: Grenzüberschreitung, Überqueren von Grenzen, Grenzregion, geografische Grenze, deutsch-polnische Grenze, Grenzsituation, Grenzvorstellungen, Grenze in den Köpfen, zwei Seiten, Grenz-Kontrolle, Öffnung von Grenzen, Grenzen einreißen, Welt ohne nationale Grenzen, individuelle Grenzen.

Raum: Ort, Platz, verschiedene Räume, Raumgestaltung, Raumaufteilung, öffentlicher Raum, Verortung, Kommunikationsraum, permeabler Raum, der eigene Raum (den es zu finden gilt), die globale Raumfrage, grenzenloser Raum.

Kultur: Kulturen, kulturell, Kulturwissenschaft, Kulturschauspieler, Kulturtourismus, interkulturell, Kulturerbe, Kulturschaffende, Kulturveranstaltung, Kulturelemente, Kulturangebot, Subkultur.

 

Ich werde mich im Weiteren bemühen, die 18 meistgenannten Begriffe in die Forschungsauswertung aufzunehmen und zu versuchen, ihnen hier angemessenen Raum zu geben. Diese Begriffe sind wie folgt:

Geschichte, Netzwerke, Vorurteile, Aktivismus, Utopie, Kultur, Stadt, Grenze, Sprache und Strategien (10 und mehr Treffer).

Nation, Staat, Europa, Ost-West Dichotomie, Kunst, Raum, Identität, Ökonomie (Knapp unter 10 - 8 & 9 Treffer).

 

Im Anhang finden sich die 15 weiteren Begriffe und die dazugehörigen Tagclouds sowie alle weiteren ausgewerteten Begriffe. Ich denke, dass diese Tagclouds sehr hilfreich für die Analyse des Codings und die Auswertung der Forschung im Ganzen sind. Neben den offensichtlich-scheinenden Themen, weisen die Tagclouds auch noch in andere Richtungen, zum Beispiel in die psychologische bzw. psychoanalytische (wohlwissend, dass ich selbst Einfluss auf die Begriffswahl hatte). Versucht man, alle Begriffe sprechen zu lassen und zu berücksichtigen, so erweitert sich vor allem das dunkle, kritische Spektrum:  Da ist die Rede vom Tabu,  von traumatischen Erfahrungen, Krisen, Unfähigkeiten, Ängsten und ungeklärten Identitätsfragen; von Hierarchien, Konflikten, Stagnation, vom Verschweigen oder Mangel. Dem „Anderen“, „Fremden“ kommt dabei eine zentrale Rolle zu.  Alle möglichen Formen von Diskriminierung und Rassismus spielen eine Rolle, die sich auch auf die nationale oder europäische bzw realpolitische Ebene übertragen lassen.

 

Dieses Coding, ist wie jedes Coding, wie jede Statistik unakkurat und kann nur als vereinfachende Darstellung gesehen werden. Und auch in sich weist das Coding Mängel auf, denn am Anfang der Transkriptionen/ Codings habe ich teilweise anderen Begriffen Beachtung geschenkt, als dann im späteren Verlauf der Auswertung. Ein weiteres Problem war die Definition/ Festlegung von Oberbegriffen und Unterkategorien. Ist Humor auch eine Strategie? Ist Antisemitismus nicht eine Form von Rassismus? In welcher Verbindung stehen sie zum Nationalismus? Ist der Zustand des Dazwischenseins nicht eine Konsequenz von Migration oder Othering? Was sind die Unterschiede zwischen Staat und Nation? Solche und ähnliche Fragen tauchten auf, die ich teilweise in der Codingtabelle festgehalten habe.

 

Bei einigen Begriffen gab es nur einen Unterschied von 1 oder 2 Treffern, um in die Endanalyse einzugehen, was durch eine Fusion zweier Begriffe zu ähnlichen Fragestellungen häufig möglich gewesen wäre, dann aber möglicherweise das Ergebnis verzerrt hätte. Oder es hätte so viele meistgenannte Begriffe gegeben, dass sie die Auswertung zu ausufernd werden lassen. Wenn es bereits einen ähnlichen Begriff unter den Meistgenannten gab, der die Thematik aus einer anderen Perspektive beleuchtet, habe ich auf ein Zusammenfügen der Begriffe verzichtet.  Zum Beispiel habe ich die Begriffe Antisemitismus / Rassismus nicht zusammengeführt, damit auch Rassismus unter die meistgenannten Begriffe kommt. Denn mit Vorurteile war bereits ein verwandtes Thema unter den ersten acht meistgenannten Begriffen. Ich denke ein Exkurs in die Rassismustheorie würde auch den Rahmen dieses Forschungsberichts überschreiten (vor allem in der Länge). Dafür wird den Begriffen Nation und Nationalismus hier mehr Aufmerksamkeit gegeben. Im Fall der Strategien habe ich die Begriffe Humor und Strategie unter Strategien subsumiert, da Humor – vor allem im Kontext der anderen genannten Strategien dazuzurechnen ist. So tauchen die Strategien (Humor, Mimikry oder die Strategie der sozialen Plastik)als wichtiges Thema in der Endauswertung auf, was ich wichtig fand, da der Aktivismus sie, so wie hier verstanden, nur teilweise aufgreift. Ich denke, all den „menschlichen Ungenauigkeiten“ zum Trotz (mal eine Zählung zuviel, mal eine zu wenig), ist davon auszugehen, dass die Tendenz der Begriffe, die Richtung in die sie weisen, eine Relevanz für das Forschungsfeld hat.

 

 

Analyse der Themenkomplexe: Verbindungen und Interpretation

 

Ein spontanes Clustering hat folgende Gliederung ergeben: vier Gruppen aus je vier Begriffen (Clouds), sowie einem Begriffsmarker rechts und links /oben und unten:

 

Vorurteile

Nation, Staat, Europa, Ökonomie

Geschichte, Kultur, Sprache, Identität

Grenze, Ost-West Dichotomie, Raum, Stadt

Netzwerke, Aktivismus, Strategien, Kunst

Utopie

 

Wie aus der Beschreibung des Feldes bereits hervorgeht, sind die genannten Oberbegriffe zentral für das Projekt und für seine hypothetische Positionierung als kosmopolitischer Ort und zentral für die Konstitution eines anderen Europas, worin ich auch eine der Kern-Thesen meiner Forschung sehe.

Ich denke, eine weitere Auswahl wäre nicht sinnvoll, da viele dieser Aspekte zusammengedacht und zusammengeführt werden müssen. Im Verlauf der Aneignung der theoretischen Werkzeuge werden alle diese Begriffe – mehr oder weniger intensiv – erläutert und in Zusammenhang gebracht.

 

Zunächst fällt einem ins Auge, dass es scheint, als würden sich Nation/Staat, Europa und die (globale) Ökonomie über Vorurteile produzieren und konstituieren. Dem könnte man nachgehen. Auf der anderen Seite bauen sich die Kunst, der Aktivismus, die Strategien und Netzwerke durch eine utopische Kraft auf.

Eine Nähe zu bestimmten Diskursen wie zum Postsozialismus, Postkolonialismus, zur Kapitalismuskritik oder zum kritischen Eurozentrismus drängt sich auf. Selbiges gilt für die Raumtheorie und die verschiedenen Diskurse, die sich mit der Grenze auseinandersetzten. Ein Blick auf weitere Begriffe aus der Codingtabelle (wie Migration, Internationalität, Othering, Rassismus/ Semitismus, Kolonialismus, Hierarchien) verbreitert das Feld in Richtung eines Hinterfragens von Machtstrukturen und der Konstruktion des „Fremden“ oder „Anderen“. Ebenso, offensichtlich durch die Codingtabelle, (dort: Krise, Mangel, Kampf, Kriminalität, Krieg/ Konflikt, Globalisierung) verlangt die Forschungsanalyse nach kritischen Diskursen zum Neoliberalismus, Kapitalismus, zu ökonomischen Verhältnissen oder den lokalen Effekten der Globalisierung. Die Realpolitik in Deutschland, Polen oder der EU scheint eine ebenso wichtige Rolle zu spielen, wie sozialer Grassroots Aktivismus, politische Kunst oder Netzwerkbildung. 

 

 

Theorien und Diskurse 

 

Erweiterter Kunstbegriff, soziale Plastik, Entideologisierung und Wirklichkeitskonstruktion

 

Zu den Begriffen Kunst, Aktivismus, Netzwerke, Strategien

 

Erweiterter Kunstbegriff & soziale Plastik:

 

Die Strategien von Słubfurt bauen auf dem „Erweiterten Kunstbegriff“ und der Theorie der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys auf (Vgl. Interviews Kurzwelly, Schefferski, Poppenhagen). Weshalb Poppenhagen auch sagt, Słubfurt selbst sei „eine künstlerische Übung, für eine Realität, die noch kommen wird“. Darauf ist Beuys Satz zurückzuführen, dass jeder Mensch ein Künstler sei, womit er nicht unbedingt die Bildenden Künste meinte, sondern „dass jeder Mensch kreative Fähigkeiten besitze, die erkannt und ausgeblildet werden müssen.“ (Stachelhaus 1997: 79) Beuys sprach vom anthropologischen Kunstbegriff, ihn interessierte nicht länger der museale, sondern der anthropologische Zusammenhang, die allgemein schöpferischen Fähigkeiten, wo die Kunst auf die menschliche Arbeit schlechthin angewendet wird. Der „erweiterte Kunstbegriff“ führt unweigerlich zu dem, was Beuys „Soziale Plastik“ nennt – „eine völlig neue Kategorie der Kunst.“ (Stachelhaus 1997: 82). Ebenso spricht Alexei Monroe über “NSK State as social sculpture”.

 

Anita Moser untersucht mit Hilfe von postkolonialen und performativen Analysekriterien „glokale künstlerische Artikulationen“ als Formen konkreter Aushandlungsprozesse und gesellschaftspolitischer Interventionen. Auch bei ihrer Untersuchung spielt die soziale Plastik und der erweiterte Kunstbegriff eine zentrale Rolle: „Mit der Erweiterung des Kunstbegriffs kommen radikal neue Vorstellungen über die Rolle der KünstlerIn bzw AkteurIn, des Materials sowie Publikums ins Spiel. (…) Der Begriff der Situation nimmt unter den konstitutiven Elementen der erweiterten Kunst eine zentrale Position ein.“ (Moser 2011: 17) Anita Moser fasst das Wirken des Fluxus Hauptvertreters des deutschsprachigen Raums so zusammen: „er geht davon aus, dass die Gesellschaft wie das Leben selbst mit Hilfe von Kreativität – einer Eigenschaft, die üblicherweise KünstlerInnen zugesprochen wird, jedoch jedem Menschen zu eigen ist, ähnlich einem Kunstwerk gestaltbar ist.“ (Ebenda: 94)

 

Für Beuys war das Kunstwerk das allergrößte Rätsel und der Mensch die Lösung: „Hier ist die Schwelle, die ich kennzeichnen will als das Ende der Moderne, das Ende aller Traditionen. Wir werden gemeinsam den sozialen Kunstbegriff entwickeln als ein neugeborenes Kind aus den Disziplinen.“ (Beuys in Stachelmann 1997: 85). Das klingt etwas geschwollen war aber in seiner Zeit, wo die Kunst noch dem Bürgertum vorbehalten war, ein wirklich neuer Gedanke: Hier markierte Beuys die Schwelle zwischen dem traditionellen Kunstbegriff, dem Ende der Moderne, dem Ende der Traditionen und dem anthropologischen und dem erweiterten Kunstbegriff. Soziale Kunst sah er als Vorrausetzung für jedes Vermögen. (Stachelmann 1997: 86) Wie bei Marcel Duchamp ging es auch Beuys später um Entgrenzung, um Erweiterung. Das Thema Grenze wurde hier ganz zentral in der Kunst thematisiert. (Vgl. Stachelmann: 83). Laut Moser gab es kaum einen Künstler, der derart radikal und konsequent wie Joseph Beuys an Grenzüberschreitungen und an der Ausweitung der Künste gearbeitet hat. Beuys geht sogar soweit, den „erweiterten Kunstbegriff“ als sein bestes Kunstwerk zu bezeichnen und betont damit, dass er nicht nur durch sein künstlerisches Schaffen an der Veränderung des Kunstbegriffs arbeitet, sondern dass seine Reflexion über den Kunstbegriff und dessen Grenzen als Kunst zu betrachten sind. Die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst empfindet Beuys als Symptom einer in isolierte Bereiche zersplitterten Gesellschaft und als Phänomen, das es zu überwinden gilt. (Moser 2011: 94/95) Beuys versuchte das Kunstsystem der westlichen Welt, aufzubrechen denn es war und ist hegemonial organisiert und von Hierarchien, Ausschlüssen und Kämpfen um Repräsentation und Teilhabe geprägt. Hierin „spiegelt sich das Konzept der Kolonialisierung als Praxis territorialer, ökonomischer, politischer und kultureller Unterwerfung, Aneignung und Ausgrenzung wider, die als Ziel die Durchsetzung des »Eigenen« hat.“ (Moser 2011: 91)

 

Implizit und explizit beziehen sich KünstlerInnen seit den 1990er Jahren auf Joseph Beuys und versuchen, seine kunstpolitischen Anliegen zu aktualisieren (Vgl. Moser 2011: 95). So auch Michael Kurzwelly mit seinen Projekten Słubfurt City oder Nowa Amerika. Kurzwellys erstes Kunstprojekt in Frankfurt fand 1998 statt und hieß

 „Kommunikationsraum Frankfurt-Słubice“. Dafür erklärten sich 16 Gastfamilien auf beiden Seiten bereit einen Künstler für vier Wochen bei sich aufzunehmen. „Die Polen haben möglichst deutsche Künstler bekommen und umgekehrt und die mussten dann damit klarkommen. An zwei Wochenenden wurden dann die Wohnräume öffentlich und so konnten Frankfurter schauen, wie ein Słubicer lebt und umgekehrt. Da habe ich schon angefangen den Begriff Słubfurt zu benutzen“ (Inteview Kurzwelly). Beuys folgend, hat Kunst für Kurzwelly zwar auch etwas mit Ästhetik zu tun, aber Ästhetik fängt nicht im Visuellen an, sondern im Kopf. Für Kurzwelly hat Słubfurt auch etwas sehr ästhetisches, nämlich die Frage des Raumes. Bewusst mit dem eigenen Raum umzugehen: „Natürlich haben wir alle unsere Grenzen, aber das Bewusstsein zu entwickeln, dass man es anders denken kann und es dann auch zu tun, das ist ja noch ein weiterer Schritt, was einen sich selbst gegenüber in eine ganz andere Verantwortung setzt.“

 

Wie schon erwähnt ist Słubfurt als Frage und nicht als Antwort zu begreifen, eine Arbeit entlang einer Fragestellung, wofür gesellschaftliche Strategien herangezogen werden: „Was sind die gesellschaftlichen Mechanismen, die dahinter stehen und die so und so funktionieren? Das benutze ich bei Słubfurt um Dinge zu konterkarieren und Dinge sichtbar zu machen“ (Inteview Kurzwelly). Der Botschafter von Słubfurt und Kunstexperte Michael Haerdter begreift Słubfurt als Relational Art: „In der „Postmoderne“ gibt es eine breite Fülle, wo die Kunst alle Lebensbereiche in Besitz genommen hat. Auch die Erinnerung. Słubfurt ist ein Kunstwerk, das Menschen zusammenbringt. Und die Relations, die Beziehungen sind der eigentliche Gegenstand. (…) Relational Art ist nichts anderes als Kommunikation und genau das macht Michael Kurzwelly“. Für den Fotografen Michael Poppenhagen, der in Polen studierte und in der Anfangsphase der Haus und Hof Filmer von Słubfurt City war, hat Słubfurt als Kunstprojekt eine weitaus existenziellere Dimension. So hat das Projekt bei ihm einen regelrechten „Turn“ bewirkt, der sich sowohl künstlerisch als auch persönlich auswirkte: „Mich begeistert bis heute am meisten, dass es meinen Kopf von den vorgegebenen Denkstrukturen befreit hat, dass ich meinen Kopf in Bezug auf Identität und Grenzen immer wieder resette, wie ein Computer, den man neu startet. (…) Das ist ja auch das Geheimnis von Słubfurt: mit einer absoluten Selbstverständlichkeit eine andere Realität und Wirklichkeit zu behaupten und zu leben. Wenn ein Projekt so stark ist, führt das auch dazu die eigenen Denkweisen zu hinterfragen“.

 

Beuys gab bereits seinem Kunstverständnis einen politischen Impetus, weil er Kunst als Chance sah, um gesellschaftliche Heilungsprozesse in Gang zu setzen, vor allem aber erkannte, dass sich die Lebensbedingungen ändern müssen, damit sich überhaupt etwas ändern kann (Stachelmann 1997: 88). Die Verbindung von Kunst und Politik sehen alle in dem Projekt Engagierten als zentral und unbedingt wünschenswert. Diese Kombination scheint die Richtung, einen wegweisenden Charakter für eine kleine mögliche Öffnung im globalisierten Kapitalismus aufzuzeigen: „Der Kunstmarkt selbst ist ja auch schon total durchökonomisiert, weshalb man heute leicht den Eindruck bekommt, Kunst hätte nur etwas mit Handel zu tun. Aber das ist ja heute bei allem so und Kunst hat auch noch diese politische und gesellschaftliche Dimension. Kunst hat die Möglichkeit ganz viele Dinge vorauszusehen und vorwegzunehmen“, so Poppenhagen. Haerdter spricht nicht als Prophet, sondern als Realist, wenn er sagt: „Der Übergang von der Kunst in die Politik ist irgendwann fällig und der wird auch kommen. Słubfurt ist da ein Wegweiser in die Zukunft“. So fehlt es der Politik an Kreativität und nicht der Kunst an Politik, was Projekte wie Słubfurt, Nowa Amerika, NSK oder auch die von Anita Moser erforschten Projekte in Österreich deutlich machen.

 

Entideologisierung und Wirklichkeitskonstruktion:

 

Für einen SłubfurterIn oder Nowa AmerikanerIn ist Geschichte eine Wirklichkeitskonstruktion, sind Nationen eine ebensolche Konstruktion: „Was mich interessiert, ist der Gedanke oder die Frage, inwiefern die Realität etwas von außen Vorgegebenes ist und inwiefern man in der Lage ist, eine andere Realität nach eigenen Gedanken und Vorstellungen zu schaffen, ja nachdem wo man sich verorten will.“ (Interview Kurzwelly)

 

 Für Kurzwelly erwächst aus der Geschichte eine Verantwortung für den Einzelnen. Ihm reicht es nicht, diese Verantwortung an Politiker zu delegieren. „Deshalb war für mich als Künstler schon immer dieses Spannungsverhältnis zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft da, das ich gespürt habe. Und so hat sich nach und nach etwas entwickelt, was durchaus politisch ist.“ Der Umgang damit bekommt etwas Humorvolles und Spielerisches, aber darunter sind auch die ernsten Ebenen. Sie wiegen aber nicht so schwer, sondern kriegen „diese anarchische Sprengkraft und die ist mir wichtig“ (…) Vieles war und ist ja tabuisiert und es geht darum den Lack abzukratzen und die Dinge rauszuholen.“ Deshalb interessiert sich Kurzwelly auch für die Bürgergesellschaft, die durch Słubfurt City und das Słubfurter Parlament konkret aufgegriffen wird. Bürgergesellschaft hält er für etwas Wichtiges, weil für ihn nur so Demokratie gewährleistet werden kann. „Eine Demokratie, die nur als pluralistisches Mehrheitensystem funktioniert, funktioniert dann eben irgendwann nicht mehr.“ (Ebenda)

 

Auch die Strategie des Endideologisierens funktioniert in der Hauptsache über Humor, da es die Dinge relativiert und ihnen das Pathos nimmt. Dadurch, dass man über sich selber lacht und seine Schrulligkeit realisiert, entideologisiert man: „Ich denke, dass Entideologisieren etwas unglaublich Wichtiges ist. Denn jede Ideologisierung ist eine Verkrustung.“ (Interview Kurzwelly) Für Žižek ist Ideologie heute lebendiger denn je. Sie äußert sich in der nationalen Identität, die aus der europäischen Trinität erwächst. Das hat Žižek eindrucksvoll durch seinen Vergleich vom Umgang mit Exkrementen, durch die Beschaffenheit von deutschen, amerikanischen und französischen Toiletten gezeigt. Bei Žižek ist die Differenz zwischen Fiktion und Fantasma entscheidend für die psychoanalytische Theorie der Ideologie. Hierbei spielt eine große Rolle, inwieweit sich die Welt, in der wir leben, verändert hat. Dies bezieht sich nicht nur auf eine Verschiebung oder Ausweitung der Parameter von Raum und Zeit, bei einer gleichzeitigen Überfülle aus Informationen, sondern vor allem geht es hier um eine Ästhetisierung der Welt, in der die Unterscheidung von Realem, Fantasma und Fiktion, von Lüge und Wahrheit zunehmend schwieriger wird.

 

Woraus besteht der sozio-politische und ideologische Hintergrund der „postmodernen“ Kriegsführung?“ Fragt Žižek und bezieht sich auf Etienne Balibar, um den gegenwärtigen Zustand von Europa zu charakterisieren, denn Balibar zitierte den alten Marxschen Satz „Es gibt keinen Staat in Europa“ (Žižek 2006: 197/198, Vgl. Žižek in Retroprincip 2003: 51). Was will uns Žižek in Bezug auf Ideologie damit sagen? Ich denke, dass sie allumfassend ist, weshalb Žižek unaufhörlich Beispiele aus Hollywood und der Popkultur auflistet, denn hier gibt es Ideologie im Reinformat: „Ideologie wird als Nicht-Ideologie präsentiert“. Žižek bezieht sich hierbei auf Guy Debord und die „Gesellschaft des Spektakels“: „Heute ist unsere Wahrnehmung der Realität von ästhetisierenden Medien-Manipulationen derartig geprägt, dass es uns nicht mehr möglich ist, die Realität von ihrem medialen Bild zu unterscheiden – die Welt selbst, wird als ein ästhetisches Spektakel erfahren“. (Žižek 2008: 194) In der „Gesellschaft des Spektakels“ lässt die Überwucherung mit realistischen Darstellungen immer weniger Raum offen für die symbolische Fiktion. Wir brauchen also eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, die weder den Tücken einer bereits einideologisierten und geplanten Transgression nachgibt (darauf komme ich noch zu sprechen), noch den Fantasmen der Gesellschaft des Spektakels aufsitzt. Was es braucht sind selbstbestimmte Raumannahmen und rezeptionsästhetische Irritationen: „Sie bewegen sich zwischen verschiedenen Genres, rekurieren auf unterschiedliche Medien und Ästhetiken und agieren in einem Spannungsfeld zwischen Fiktion und Wirklichkeit und zwischen Kunst und Politik“. (Moser 2011: 298)

 

Postsozialismus, Postkolonialismus und Raumtheorie

 

Zu den Begriffen Stadt, Raum, Grenze & Ost-West Dichotomie

 

Ich habe dann versucht den Leuten zuhause klar zu machen, dass es mit den Himmelsrichtungen so auch nicht funktioniert, wenn nach Ostdeutschland gleich Westpolen kommt, dann stimmt da was nicht. Ich hab z.B. am Telefon öfter gesagt: ich fahre jetzt noch in den Westen, da wurde dann erwidert, das sei ja weit. Ich musste dann immer aufklären, dass ich nach Westpolen fahre, denn so sehe ich das. Wenn man von polnischer Seite ein Foto von Deutsch-Görlitz macht, dann wird einem klar, dass man von Westpolen aus gerade Ostdeutschland fotografiert.“ (Interview Kai Görlitz)

 

 

Raumtheorie:

 

Wie wir gesehen haben ist Raum einer der weiteren zentralen Begriffe in diesem Forschungsvorhaben, weshalb ich einen Exkurs in die Raumtheorie machen möchte. Wer wird in welchem Raum repräsentiert? Und von wem? Wer wird wie repräsentiert? Laut Moser zeigen diese Fragen, „dass es im Zusammenhang mit Raum immer um Fragestellungen in Bezug auf Repräsentations-, Defintions-, und Partizipationsmacht geht. Zudem zeigen sie, dass das Phänomen Raum nicht im Singular, sondern im Plural zu denken ist.“ (Moser 2011:117)

Laut Armando Silva ist das differenzielle Territorium in seiner unterscheidenden Manifestation ein gelebter, markierter und erkannter, erinnerter Raum. Gruppenidentitäten können über diese Praktiken sichtbar werden. Die sozialen Praktiken erzeugen Sketches; und diese imaginierten Skizzen der Stadt werden mehr genutzt, als ihre tatsächlichen geografischen Karten. Die sozialen Akteure schreiben sich durch ihre Praktiken in die Stadt ein. Der wichtigste Aspekt bei Silva ist die Imagination. Unsere Wahr­nehmung funktioniert hauptsächlich über Fantasmen. Und auch, wenn diese zunächst nicht real sind, können sie es in ihrer Konsequenz werden. Hierin sind Parallelen zu Arjun Appadurai zu erkennen, der von imaginierten möglichen Leben spricht, die durch die global präsenten Bilder in Fernsehen und Internet provoziert werden. Ebenso spricht Silva von Fantasmen, wie sie uns in ähnlicher Form bei Žižek und der psychoanalytischen Sichtweise begegnen. Silva könnte sich ebenfalls auf Beuys beziehen, denn für ihn bringt der Alltag der Menschen, ihre sozialen Sketches der Stadt zum Vorschein, und damit auch die Entstehung ästhetischer Kunstwerke hervor. So kann die Stadt laut Silva als Kunstwerk studiert und analysiert werden. (Silva 1992/2003) Auch Moser schreibt: „Der Raum konstituiert sich über soziale Beziehungen, er ist performativ konstruiert und als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation“ (Moser 2011: 119/120). Doris Bachmann-Medick beschreibt diesen Perspektivwechsel als Cultural Turn innerhalb der Kulturwissenschaften und umreißt einige der für uns relevanten Theorien: „Die Raumperspektive erstreckt sich auf Räume, die nicht mehr nur real, territorial und physisch, auch nicht mehr nur symbolisch bestimmt sind, sondern beides zugleich und damit potenziert zu einer neuen Qualität: ‚Heterotopien’, so nennt sie Foucault, unter ‚imaginary geography’ fasste sie Said, als ‚global-ethnoscapes’ bezeichnet sie Appadurai, ‚Thridspace’ bzw. ‚real-and-imagined places’, so nennt sie Soja.“ (Bachmann-Medick 2006: 297f)

Hierbei ist hervorzuheben, dass diese Räume gleichsam auch von ökonomischen, hierarchischen und gewaltsamen Prozessen begleitet und durchdrungen werden. Aber soziale Praktiken und ihre Symbole und Codierungen ermöglichen uns, die Stadt auf andere Arten als der hierarchisch vorgegebenen zu lesen. So schrieb auch Herbert Marcuse in Permanenz der Kunst - ganz im Sinne Silvas: „Die Wahrheit der Kunst liegt in der Durchbrechung des Realitätsmonopols, wie es in den bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird“. Diese Machtstrukturen haben vor allem Henri Lefébvre und Pierre Bourdieu hervorgehoben. Bourdieu konzentriert sich auf die Macht­verhältnisse hinter den räumlichen Strukturen. Der Konsum von Raum ist für ihn eine der massivsten Zurschaustellungen von Macht. Er unterscheidet zwischen physischem Raum und sozialem Raum, wobei der soziale Raum aus einer Überlagerung von Subräumen und Feldern besteht, die ihrerseits eine Struktur von ungleicher Verteilung des Kapitals widerspiegeln. Bourdieu sagt, dass die sich im physischen Raum offenbarenden sozialen Unterschiede dazu tendieren, sich auch im Denken und Reden als Bewertungs- und Unterscheidungsprinzipien aus­zudrücken und so selbst zu Kategorien von Wahrnehmung zu werden. Die Hierarchien sind durch „Naturalisie­rungseffekte maskiert, die mit der dauerhaften Einschreibung sozialer Wirklichkeiten in die natürliche Welt einhergehen“. (Bourdieu 1997: 117-119). In Form von symbolischer Gewalt, bleibt die Macht weitgehend unbemerkt: „Dank ihrer weitgehenden Unsichtbarkeit sind sie die zweifellos wichtigsten Kom­ponenten der Machtsymbolik“ (Ebenda).

Anders als Bourdieu macht Henri Lefébvre in seiner Raumtheorie auch Aussagen, die sich auf Kunst und Kultur beziehen. Lefébvre analysiert die Problematiken der urbanen Gesellschaft und zeigt Konflikte auf, die um die Gestaltung der Städte entstehen oder ausbleiben. Er kritisiert die technokratische Stadtplanung, denn der Kampf um die Gestaltung von Architektur und die Struktur der Städte, ist für ihn der Kampf um ein menschenwürdigeres Dasein. Wie Bourdieu entlarvt er die verborgenen Herrschafts-Gebote und Macht-Symbole des Kapitals. Als Handwerkszeug um Räume sowie Orte zu definieren und vergleichbar zu machen benutzt Lefébvre die Unter­scheidung von differenziellem Raum im Gegensatz zu homogenem Raum, der städtische Raum ist durch seine Bewohner und ihre Praktiken differenziell. Aber, daraus eröffnet sich bereits ein neues Problem, wie Antia Moser aufzeigt: „In einem differenziert gedachten öffentlichen Raum, der aus lauter Teilöffentlichkeiten mit völlig unterschiedlichen Interessen besteht, verschwinden Dichotomien und eindeutige Hierarchien sowie klare Oppositionen und konkretes politisches „Dagegen-Sein“ oder „Dagegen-Handeln“ wird ungleich schwieriger“. (Moser 2011: 121)

 

Lefébvre benutzt auch die Kategorien Utopie, Isotopie und Heterotopie, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, allerdings bleibt festzuhalten, dass Utopie und Heterotopie untrennbar mit der Imagination verbunden sind. Lefébvre geht es aber nicht um einen urbanen Idealismus, wenn er von Utopie spricht. Sondern darum, die Existenz dieser Utopien im Urbanen aufzuzeigen: „Wenn sich die Wahrheit auch verbirgt, ihren Sinn verliert, der Sinn für Wahr­heit kann jeden Augenblick hervorbrechen“ (Lefébvre 1972:130). Die Wahrheit von der er hier spricht, ist die soziale Wahrheit einer Stadt, welche auch soziale Dramen beinhaltet, denn nach Lefébvre ist das Städtische nicht frei von Unterdrückung. Dennoch hat die Macht nie alles vollkommen unter Kontrolle. So wünscht sich Lefébvre, dass möglichst alle Gruppen Räume besetzen, „um expressive Handlungen und Konstruktionen zu vollbringen“ (Lefébvre 1972:141). Zu diesem Prozess, der einen Raum differenziell macht gehören nicht nur die Aktivisten, oder jene die Spuren hinterlassen, sondern auch die betrachtenden, wahrnehmenden Stadtbewohner; Lefébvre weist darauf hin, dass im öffentlichen Raum der potentielle Ort für Utopien ist. Aber: „Das Städtische, der Ort des Dramas, kann selbst zum Drama werden, wenn die Bewegung zum Stillstand kommt“, so Lefébvre

 

Postsozialismus & Postkolonialismus:

 

Die Deutschen reden nicht mit den Polen auf Augenhöhe, sondern fühlen sich eben gut, wenn sie da ihre alten Klamotten hinbringen. Die fühlen sich dann als Wohltäter und erwarten Dank.“ (Michael Kurzwelly)

 

Zunächst bedarf es einer Definition der Begriffe. Chris Hann beschreibt den Begriff Postsozialismus als so lange notwendig „wie die Ideale, Ideologien und Praktiken des Sozialismus für das Verständnis der gegenwärtigen Lage den betroffenen Menschen als Bezugspunkt dienen.“ (Hann 2002: Vorwort, 7). Oder anders formuliert, bezieht sich der Begriff auf Auswirkungen und Veränderungen durch „weit reichende soziale Transformationsprozesse, auf das soziale Beziehungsnetz und die Lebenswelten der Bürger in postsozialistischen Staaten“ (Hann 2002: 9). Man könnte sagen der postsozialistische Diskurs ist dort angebracht, wo die Vergangenheit in der Gegenwart weiterexistiert. Laut Hann geht aber auch an vielen Orten der postsozialistischen Länder, vor allem durch Privatisierungsprozesse eingeleitet, „eine gesamte Lebensweise zu Ende“. In den betroffenen Regionen stellt er eine Zunahme der sozialen Ungleichheit fest. Oder etwas knapper mit Katherine Verderys Worten ausgedrückt: “’Postsocialism’ referred to whatever would follow once the means of productions were privatized and the Party’s political monopoly disestablished.” (Verdery ua 2009: 10/11)

 

Wenn wir von postsozialistischen Ländern sprechen, sollten wir im Hinterkopf behalten, dass ein Teil von Deutschland auch dazu gehört. Dadurch ergibt sich für den Kontext des Forschungsfelds eine ganz besondere Situation unter der postsozialistischen Perspektive. Einmal die Grenzsituation Polen-Deutschland und die Grenzsituation Ost-Deutschland/ West-Deutschland. Hann fragt sich, „inwieweit die gegenwärtigen systemischen Transformationsprozesse als liminale Phase eines rite de passage[14]betrachtet werden“ können? (Hann 2002: 18, Vgl. Michał Buchowski, Zygmunt Bauman). Hier begegnen wir der Grenze erneut, in einer anderen Dimension. Man könnte sagen, dass hier eine zweifache Liminalität vorliegt. Dazu Moser: „Liminalität als Erfahrungs- und Handlungsform des „Dazwischen“ ist nicht nur ein performativer Grundbegriff, sondern auch eine zentrale Qualität der realpolitischen Situation vieler MigrantInnen und damit ein Schlüsselphänomen des postcolonaial Turn.“ (Moser 2011: 12/13) Im Zusammenhang mit Liminalität ist auch der Begriff der Transgression hilfreich, den Ulrich Best wie folgt definiert: „The term transgression implies movement, and movement across a border. This is close to the German term Grenzüberschreitung. In English, it also applies the breaking of a rule, often in a religious of criminal context. In the sense of trespass: To go beyond prescribed limits. And indeed, the crossing of a border carries rituals of criminal or religious ceremonies: the need to pass a guarded checkpoint, a situation of the relinquishment of control of a situation, a rite of passage, a declaration of ones burdens. Further, transgression is a practice that is not entirely controlled (…) it is a practice.” (Best 2006: 188)

 

Was genau meint also der postkoloniale Diskurs in Abgrenzung zum postsozialistischen? Hierzu Katherine Verdery:  “While ‘postcolonialism’ would seem to be a parallel investigation of what happened to the colony after independence, postcolonial studies did not follow exactly the same trajectory (…) both “posts” followed and continue to reflect on periods of heightened political change – the fall of the Berlin Wall and of Communist Party monopolies, or the formal granting of independence – and both labels signify the complex results of the abrupt changes forced on those who underwent them: that is, becoming something other than socialist or other than colonialized”. (Verdery ua 2009: 11) Die Autoren sprechen sich für eine Parallele zur Postkolonialismusforschung innerhalb der Postsozialismus-forschung aus. Postsozialistische Studien sollten sich die Untersuchung von Herrschaftspraktiken des Postkolonialismus zu Eigen machen. Die Forschungs-bereiche sollen zusammen gedacht werden, in ein einziges großes Forschungsfeld verwandelt werden, so wie auch Ost und West zusammengedacht werden sollten (Verdery 2002: 35,36).

 

Verdery schlägt deshalb als Begriff Post-Kalter-Krieg-Studien vor: „Wie Postkolonialismus Studien die Vorstellungen vom „Selbst“ und „Anderen“ im kolonialen Zusammenleben von Kolonialherren und Koloniegebiet zum Gegenstand haben, könnten wir dieses Verhältnis sowohl in der sozialistischen als auch der kapitalistischen Welt untersuchen“. (Verdery 2002: 34/35) Auch 2009 plädiert sie mit Sharad Chari erneut dafür: “Our perspective reflects three spatial partitions [first world, second word, third world], preferring a single analytical field – “the (post-) Cold War” – and asking how Cold War representations have shaped and continue to shape theory and politics. Such a perspective refuses the division of intellectual labour through which areas emerging from European colonization go to postcolonial studies and areas emerging from behind the Iron Curtain to postsocialist studies” (Verdery ua 2009: 18/19). Für Verdery ist die globale Ordnung, das gesamte Feld des Kolonialismus und Neokolonialismus, eine durch den kalten Krieg geschaffene Ordnung. Der Kalte Krieg ist nicht vorbei: „wir spüren seinen Einfluss bis heute. Wie sonst ließe sich die Bedeutung verstehen, die Wissenschaftler und Politiker gleichermaßen der Privatisierung, Marketisierung und Demokratisierung beimessen – jenem Dreiergespann westlichen Selbstverständnisses, das so beharrlich dem ehemaligen sozialistischen „Anderen“ zum Zeichen dafür aufgezwungen wird, dass der Kalte Krieg vorbei ist?“( Verdery 2002: 40) Etienne Balibar teilt diese Ansicht, denn er sieht in der „Europäischen Einigung“ in ihrer heutigen institutionellen Form nicht nur eine „Tochter des Kalten Krieges“, „es waren auch in Wahrheit zwei gegensätzliche Konzeptionen des europäischen Projekts (…). Es gab ein „Europa des Ostens“ und nicht bloß ein „Europa im Westen“. (Balibar 2005: 270) Der Zusammenbruch des Ostblocks äußert sich in einer anhaltenden Fortschreibung von Strukturen des kalten Krieges, „gepaart mit Konkurrenzdenken und einer Klientelhierarchie, als handele es sich um den „totalen Sieg“ eines Imperiums über ein anderes. Die extreme Seite dieser „postsozialistischen Herrschaft“ (…) bildeten die Phänomene von Semikolonialismus und containment.“ (Ebenda)

 

 

Der historische und politische Kontext

 

Zu den Begriffen Geschichte, Kultur, Identität

 

Ich hab in Polen gemerkt, wie Deutsch ich eigentlich bin und das hat auch seine guten Seiten. Polen ist für uns ein Spiegel und ist doch anders als wir; man hat eine gemeinsame Geschichte und Polen liegt gleich vor der Haustür. Man hat viel gemeinsam durch gemacht und das ist eigentlich eine große Chance, für beide Länder! Da kann man noch sehr viel auf den Weg bringen und das ist ja auch der grundlegende Gedanke von Słubfurt“. (Jan Poppenhagen)

 

Ich habe 1994 in Poznan Bürgerradio gemacht bei Bob Gamble, ein Pfarrer oder so von Procter und Gamble, der hatte viel Geld und hat dann dieses Radio gegründet. Ich wurde da als Deutscher, der in Poznan lebt, eingeladen zwei Wochen lang jeden Nachmittag Rede und Antwort zu stehen. Du kannst dir nicht vorstellen, was da los war! Vor allem für Menschen der älteren Generation war ich so ein Ventil, wo sie alles loswerden konnten, was sie den Deutschen schon immer mal sagen wollten. (…)Daran sieht man, dass da noch viele Wunden und Verletzungen sind, woran sowohl Täter als auch Opfer zu knabbern haben.“ (Michael Kurzwelly)

 

Der Diskurs in Deutschland über Polen zeigte sich in einem Set von Images (schmutzig, faul, rückwärtsgewandt), was dafür sorgte, dass Bismarck seine Germanisierungsbemühungen in Polen legitimieren konnte. Umgekehrt wurden die Deutschen als Eindringlinge in den Körper der polnischen Nation wahrgenommen. (Best 2006: 186). Laut Ulrich Best sorgte der Nationalismus auf beiden Seiten für die Konstruktion des „Andern“: „In this context, German nationalism was pictured as a revival of the German medieval colonizing past, reinvented as German “Drang nach Osten” in both Germany and Poland” (Best 2006: 185,186). Deutschland und Polen sind historisch sehr stark verbunden und laut Best war es der nationalistische Diskurs der jeweils ihre Rolle als „Andere“ konstruierte: „Western Europe in the eighteenth century created a line between “civilization” and “barbarism”. With the creation of the East as the Other, a borderline was drawn. Enlightenment discourse turned Eastern Europe into the Other of the West.” (Ebenda)

 

Nach Buchowski erscheint Europas Osten als Produkt einer versuchten Verwestlichung und Demokratisierung (Einführung von Rationalismus, Säkularisierung, neoliberaler Ökonomie). Ein Prozess, den ich im Weiteren als Europäisierung bezeichnen werde. Dieser Prozess kann als Versuch der Schaffung einer »Quasi-Kolonie« (Todorova 1997) gelten, die dementsprechend politisch sowie intellektuell dominiert und untergeordnet sein muss. Für die Europäisierung und den Diskurs des Postsozialismus spielt die Konstruktion des Anderen eine ebenso wichtige Rolle wie im postkolonialen Diskurs. Laut Buchowski nimmt der Prozess der Erschaffung „des Anderen“ im sozialen Leben verschiedene Formen an: „Ein Wandel kollektiver Identitäten und die Konstruktion »des Anderen« ist Bestandteil der Transformationsprozesse in Europa nach 1989. Eine Reihe von Faktoren beeinflussen diese Alterationen, einer jedoch ist besonders hervorstechend: die Restrukturierung der Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten durch die hegemoniale liberale Ideologie.“ (Buchowski 2006/ Übersetzung 2011, habe keine genauen Angaben für Seitenzahlen) Laut Buchowski werden die Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa per definitionem als instabil wahrgenommen. (Buchowski 16) Sowohl die »kolonisierte« Peripherie und das kolonisierende Zentrum werden durch diese Prozesse erschüttert: „Die mehr und mehr verschwimmenden Bereiche von Orient und Okzident führen dazu, diese neu zu zeichnen, wenn nicht auf der Landkarte, so doch im sozialen Raum. (Buchowski: 17)

 

Der Eiserne Vorhang sorgte während des kalten Krieges aus westlicher Perspektive für eine klare Teilung zwischen „uns“ und „den Anderen“. Diese Grenze wurde nach Buchowski auch in die mentale Landkarte eingeschrieben, „in welcher der kontinuierliche Raum in diskontinuierliche Orte verwandelt wurde, die von zwei unterschiedlichen Stämmen, dem zivilisierten »wir« und den exotischen, häufig »unzivilisierten« Anderen bewohnt werden“ (Buchowski: 2/3). Die Veränderungen in Polen durch den Neoliberalismus beschreibt er als einschneidend und schwerwiegend: Diejenigen Personen oder Gruppen, die nicht mit den Veränderungen Schritt halten können, tragen selbst Schuld an ihrem Schicksal. „Sie haben sich als »zivilisatorisch inkompetent« erwiesen, zeigen einen »grundsätzlichen Mangel an Disziplin und Fleiß« und behindern die Anstrengungen derer, die es geschafft haben und den Fortschritt der Gesellschaften in jenen Regionen, die auf dem besten Wege sind, »normal« zu werden“. (Buchowski: 9)

 

Orientalismus funktioniert bei Buchowski als Gespenst (wir könnten auch im Sinne Žižeks von Phantasma sprechen), das den menschlichen Verstand heimsucht und „der Schaffung sozialer Unterschiede innerhalb sowie jenseits von Staatsgrenzen“ dient. Innerhalb Polens schaffen es die Armen und Arbeitslosen, die Bauern und Arbeiter nicht, sich in das neue institutionelle Design einzupassen, „in der »zivilisatorische Kompetenz« von größter Bedeutung ist. Einige sind zivilisiert, während die Anderen unzivilisiert, sprich primitiv sind. Diese Teilung in ein zivilisiertes »wir« und ein primitives »sie« reicht bis in die Zeit der Aufklärung und der post-aufklärerischen wissenschaftlichen Division der Welt zurück. (Buchowski: 9) In dieser Logik sind arme Leute nicht das Subjekt von Veränderungen, sondern ihre Objekte. Aber alle Beteiligten sind Produkte eines historischen Prozesses, an denen alle aktiv teilnehmen. Menschen überwintern nicht als homo sovieticus oder homo orientalis, sondern durch die Reproduktion ihrer täglichen Praktiken reinterpretieren sie diese unaufhörlich und tragen mit zur Veränderung bei. „Die Arbeitslosen sind nicht Opfer ihrer mentalen Verhaltensweisen, sondern ein Ergebnis der Transformation, die sie als eine Konsequenz des Globalisierungsprozesses erfasst hat.“ (Buchowski: 15) .

 

Ebenso verweist Žižek auf die libidöse Ökonomie der Vikitmisierung. Hierbei geht es darum narzisstische Befriedigung darin zu finden, Leid zu teilen. Die Universalisierung des Opferbegriffs verdichtet zwei Aspekte. Auf der einen Seite die Dritte-Welt-Opfer,  auf der anderen Seite pathologischer Narzismus: „Der Andere als solcher wird mehr und mehr als potenzielle Bedrohung wahrgenommen, als Eindringling in den Raum meiner Selbst-Identität.“ (Žižek 2008: 206) Die heutige große Spaltung besteht zwischen „denen die in sind (zur law.and-order-Gesellschaft von Wohlfahrt und Menschenrechten gehören) und denjenigen die out sind (von den Obdachlosen unserer Städte bis zu den verhungernden Afrikanern und Asiaten).“ (Žižek 2008: 206) Das heißt, „dass Mitleid der Weg ist, die richtige Distanz gegenüber dem „Nachbar in Not“ zu wahren.“ (…) Das Opfer wird in einer Weise präsentiert, dass wir uns darin gefallen, es zu betrachten“. (Žižek 2008: 205) Es wird eine Art Phantasma-Bild des Opfers konstruiert, doch für Ziziek bleibt hier etwas ganz entscheidendes verborgen: „Das Phantasma, seine immobilisierende Faszinationskraft, vereitelt unsere Fähigkeit zu handeln (…) Die liberal-demokratische „post-moderne“ Ethik des Mitleidens mit dem Opfer legitimiert die Vermeidung, das endlose Hinauszögern des Aktes.“ (Žižek 2008: 204)

 

Hegemoniale Diskurse beherrschen das Feld. Diese Bilder sind weder wahr noch falsch. Auf der rationalen Ebene werden „neue orientalische Brüder“ unterworfen.“ Erfundene Identitäten werden zu sozialen Identitäten genau in dem Augenblick, in dem sie in das Denken und das Handeln der Menschen eingeschrieben werden, ein Prozess, bei dem unser Denken ein Teil der sozialen Realität wird. „Im Fall der scheinbar mono-ethnischen polnischen Gesellschaft erfüllen Klassen- und Kulturunterschiede eine wichtige Funktion in der Erzeugung sozialer Distinktionen“. (Buchowski: 16) Ebenso arbeiten diese Einschreibungen an einer Konstitution des Rassismus mit. Etienne Balibar beschrieb die zweifache Verschiebung des zeitgenössischen Rassismus, der im Zuge des Niedergangs des Nationalstaats aufgekommen war. Laut Žižek funktionierte der klassische Rassismus als Ergänzung zum Nationalismus: „Heute scheint ihr Verhältnis umgekehrt (…) Nationalismus selbst funktioniert als eine Erscheinungsform oder eine Ergänzung zum Rassismus, als eine Abgrenzung vom internen Fremdkörper. Deswegen ist  „nicht-rassistischer Nationalismus“ heute formal unmöglich, da Nationalismus selbst (…) postuliert ist als eine Spezies des Rassismus (der „Andere“, demgegenüber wir unsere nationale Identität behaupten, bedroht uns immer wieder „von innen“).“ (Žižek: 198)

 

Auf den Begriff der Sprache, der in diesem Abschnitt auch dazu gehört, bin ich nicht eingegangen. Linguistik und Sprachphilosophie würden sicher noch weitere interessante Aspekte zum Vorschein bringen. Da dies aber den Rahmen des Forschungsberichts und unsere bisherige theoretische Herangehensweise an das Thema verlassen würde, verzichte ich hier darauf.

 

 

Die Grenzen der Demokratie

 

Zu den Begriffen Europa, Staat, Nation & Ökonomie

 

Wir sind gerade an einem Punkt, wo wieder neue Grenzen geschaffen werden. Der 11. September war ja eine historische Zäsur und es bilden sich wieder neue Interessensgruppen. Jetzt werden neue Grenzen innerhalb der Städte gezogen: durch Gentrifizierung, Privatisierung und Überwachung von öffentlichen Räumen bis hin zu neuen Einreisebestimmungen. Das hat alles etwas mit Grenzen und Regulierung von Freiheit zu tun.“ (Interview Jan Poppenhagen)

 

Die Leute erwarten von mit oft, dass ich mich erkläre, oder festlege und sage: Ich bin Pole oder ich bin Deutscher. Was auf Leute wie mich zutrifft ist, dass wir alle Europäer sind. Was uns verbindet ist die europäische Kultur. Ein Teil dieser Kultur ist das Christentum, ein anderer das Judentum.“ (IV Roland Schefferski)

 

Den Europagedanken finde ich grundsätzlich gut, aber er ist mit großen Risiken behaftet. Letztendlich genauso eine Vision oder Fiktion, wie wir sie nach sozialistischen Gedankenansätzen in der DDR auch hatten. Diese Ideale ließen sich nicht in Gänze umsetzen und daran wird auch die Europavision kranken. Die Idee und was man damit erreichen will ist bestimmt gut, aber die Schwierigkeiten zeigen sich ja jetzt. Man sieht das jetzt ganz deutlich, was sich vorher noch nicht so abgezeichnet hat, das was man noch nicht abschätzen konnte“. (IV Frau Hoffmann)

 

 

Etienne Balibar bezweifelt, dass sich der Staat oder die Nation durch den gemeinsamen Akt der Staatsbürger konstituiert: „Er ist im Gegenteil immer schon da als „Maschine“ oder (Verwaltungs-, Justiz-, Militär, sogar ökonomischer) „Apparat“, das heißt als eine den sozialen Gruppen oder Individuen äußerliche materielle Gewalt, die eine bestimmte Macht über sie ausübt“. (Balibar 1993: 89/90)

Die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen kann jeder Souveränität entleert werden, wenn der Staat die politische Entscheidung monopolisiert und das „Volk“ oder die „Nation“ zu einer ideologischen Hülle macht. (Balibar 1993: 90) Denn der Staat funktioniert als ein Apparat legitimer Ausschließung: die „Ausländer“ unterliegen auf staatlichem Territorium einer speziellen Behandlung, wie auch die „Minderheiten“. „Diese sind organisch mit eingeschlossen in das soziale Beziehungsnetz (Familie, Arbeit, Kultur) und zugleich aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen“. (Balibar 1993: 91) Für Balibar ist jede besondere Ausschließung historisch und beruht auf gesellschaftlichen Bedingungen und bestimmten Kräfteverhältnissen. (Balibar 1993: 92) „Das heißt, dass die „äußere“ Grenze Faktisch zur „inneren Grenze“ geworden ist, allen Widerständen und gegenteiligen Versicherungen zum Trotz“ (Oriol 1985).

 

Für Balibar erscheint die nationale Identität, verstanden als exklusive Zugehörigkeit, immer weniger realisierbar. „Zwischen der naturalistischen Vorstellung des Staatsbürgers und den wirklichen Grundlagen seiner Autonomie tritt eine Verschiebung ein.“ (Balibar 1993: 96/97) Ganz bezeichnend an dieser Verschiebung ist für Balibar, dass sich die Nation selbst als ein Unternehmen vorstellt, „das sich im Rahmen eines verallgemeinerten Marktes Produktivitäts- und Rentabilitätsziele setzen muss und dessen (lebenslang) beschäftigte die National-Staatsbürger wären.“ (Balibar 1993: 97, 98) Balibar bedeutet auf einen  Widerspruch zwischen der relativen Entpolitisierung und der Aufwertung des Politischen, und schlussfolgert daraus: „Das Staatsbürgertum im modernen Staat ist am Scheideweg.“ (Balibar 1993: 98)

 

Ein Jahrzehnt später sieht Balibar nicht nur das Modell des Nationalstaats als gefährdet, sondern diagnostiziert eine Krise des europäischen Gesellschaftsmodells. Diese rührt seiner Meinung nach aus der politischen und sozialen Teilung des Kontinents und resultiert aus der Konstitution eines Apartheidsstatus in Bezug auf Einwanderung „aus Drittstaaten“ (Balibar 2005: 264). Nach wie vor sieht er in der Staatsbürgerschaft ein zentrales Problem: Bürgerschaft unter Voraussetzung von Staatsangehörigkeit schafft einen ambivalenten Status, „der zugleich kollektivierend und individualisierend, befreiend und protegierend (dementsprechend auch zwingend, weil kontrollierend), einschließend und ausschließend ist“. (Balibar 2005: 266) Für Balibar ist deshalb 20 Jahre nach der Revolution von 1989 „die Ost-West-Spaltung Europas nicht nur nicht überwunden, sie hat sich in gewisser Weise verdoppelt.“ (Ebenda: 270) Diese doppelte Spaltung manifestiert sich in einem inegalitären und gefährlich konfliktträchtigen Charakter des europäischen Projekts. Für Balibar ist es zu einem wirklichen Bruch gekommen, zu „einem kalten Krieg nach dem kalten Krieg“. (Ebenda: 271) Man muss deshalb mehr denn je „die Notwendigkeit der Initiative „von unten“ hervorheben“ (Ebenda: 268). Als solche Initiative von unten sehe ich Projekte wie Słubfurt, Nowa Amerika oder NSK-State.

 

 

Kosmopolitische Orte

 

Słubfurt ist für mich die Schaffung einer neuen Grenze oder auch Nicht-Grenze; die alle davor bestandenen Grenzen ignoriert. Alte Grenzen werden nicht wahrgenommen. Die individuelle Person zieht selbst seine Grenzen, da geht es um den individuellen Aspekt. (…) Der Słubfurter als solches ist sich seiner eigenen Grenzen bewusst. Viele Leute wissen gar nicht, wo sie hingehören oder welche Fragen sie sich stellen sollen. Die Nationalengrenzen, die in der Welt bestehen, sind auch Grenzen, die die individuelle Grenzfindung verdammt irritieren können“. (Interview Jan Poppenhagen)

 

Arjun Appadurai beschreibt den gegenwärtigen Moment der radikal globalisierten Wirklichkeit als einen Bruch in der Geschichte der Moderne. Und zwar „in dem Sinn, dass die damit verbundene zeitliche und räumliche Trennung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt zunehmend kollabiert“. (Römhild , Antrittsvorlesung HU, Angaben?) Die mediale Kommunikation sorgt dafür, dass Imaginationen "anderer möglicher Leben" zur Verfügung gestellt werden. Dies hat dazu geführt, dass die Bewohner der Welt exzessiv mobilisiert wurden, obszön würde Žižek wohl sagen, vor allem in Bezug auf die unfreiwillige Mobilisierung. Aber es hat auch dazu geführt, dass bislang marginalisierte Akteure (MigrantInnen, Flüchtlinge, Prekarisierte etc) und Prozesse (Grenzüberschreitung auf institutioneller und invidvidueller Ebene) ins Zentrum der Betrachtung rücken. Ich verstehe hier Kosmopolitisierung im Sinne Regina Römhilds, Ulrich Beck und anderen, die Kosmopolitisierung im Sinne der Dezentrierung, verstehen. Römhild spitzt den Begriff noch zu: „nämlich als Dezentrierung (oder Kosmopolitisierung) einer kolonialen Weltordnung und ihres bisherigen Mittelpunkts: des Westens und Europa.“

 

Historisch ist der kosmopolitische Traum der Traum von einer Welt, die ihre „Grenzen des Nationalismus, Rassismus und Kolonialismus überwindet“ (Römhild 2007: 212), Folgen wir Römhild, so hat sich die Migration als Motor der Transnationalisierung erwiesen. Kosmopolitische Praktiken zeichnen sich dadurch aus, dass sie „das alte Konzept des Kosmopolitismus für einen aktualisierten Gebrauch reformieren“ (Römhild 2007: 213). In dem „dritten diasporischen Raum“ werden laut Römhild identitäre und politische Positionen aus der dauerhaften Distanzierung zu nationalen Herkünften und Zuordnungen entwickelt. Das neue Konzept, das in den 90er Jahren und im neuen Jahrtausend entworfen wurde, unterscheidet sich gravierend von den alten Konzepten eines elitär konstruierten Kosmopoliten westlich-bürgerlicher Herkunft. So lässt sich auch die Kolonialisierung selbst als ein Projekt dieses Kosmopolitismus begreifen. Denn mit der Eroberung und Unterwerfung der Anderen war zugleich aus europäischer Perspektive immer auch eine kulturelle, zivilisatorische Mission verbunden „Im Projekt der Kolonialisierung stehen Kosmopolitismus - als Vorstellung eines universalen Menschseins - und Rassismus - als Begrenzung und Hierarchisierung von Menschsein - in einem engen, wechselseitigen Verhältnis zueinander: das eine ist ohne das andere nicht denkbar.“ (Römhild, ?)

 

Dieses Prinzip zeigt seine Kontinuität in der fortdauernden Macht der modernen Erzählung vom "Westen und dem Rest" (Vgl. Stuart Hall). Hier geht es um das Prinzip der Weltbeherrschung und Weltverbesserung, was immer auch eine - dem Rassismus ähnliche - kulturelle - und damit koloniale – Begründung ist (Römhild Antrittsvorlesung 2010) Jean und John Comaroff sprechen von einem "inneren Kolonialismus" indem der europäische Nationalstaat durch das moderne Ideal des männlichen, bürgerlichen, weißen Subjekts immerfort eigene Andere, produziert, die es dann entweder entlang rassistischer Grenzen auszuschließen oder zu zivilisieren, zu integrieren versucht. Laut Römhild reicht das Arsenal dieser eigenen Anderen „von der Arbeiterklasse über Frauen, Juden und Schwarze bis zu den früheren wie heutigen Migranten und den religiösen, politischen, sexuell-identitären Subkulturen, die von den normativen Standards der westlichen Moderne abweichen“. (Römhild Antrittsvorlesung 2010) Ulrich Beck und Edgar Grande haben am Fallbeispiel der Europäisierung gezeigt, dass es hier auch um die reale Kosmopolitisierung Europas geht: „durch die nämlichen Prozesse reflexiver Modernisierung und Globalisierung“. (Römhild Antrittsvorlesung 2010)  Die Perspektive der Kosmopolitisierung verschiebt Migration „ins unmittelbare Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit einer reflexiv gewordenen Moderne“. (Ebenda)

 

Ulrich Beck und Natan Sznaider glauben, dass das 21. Jahrhundert ein Zeitalter des Kosmopolitismus wird, in dem es gilt, diese „Cosmopolitian Condition“ zu entdecken und zu verstehen. „The main point for us lies in the fact that the dualities of the global and the local, the national and the international, us and them, have dissolved and merged together in new forms that require conceptual and empirical analysis. The outcome of this is that the concept and phenomena of cosmopolitism are not spatially fixed; the term itself is not tied to the ‘cosmos’ or the ‘globe’, and it certainly does not encompass ‘everything’” (Beck & Sznaider 2006: 3). Das Konzept des Kosmopolitismus lässt sich also nicht beliebig auf alles übertragen. Es existiert in spezifischen Formen und kann in verschiedenen Bereichen des Sozialen und Politischen praktiziert werden. Für Römhild lässt sich in diesem Verhältnis zwischen "Kerneuropa" und seinen Rändern „eine Geschichte kolonialer Verflechtungen entdecken“. Aus dieser Perspektive der Migration „ist auch Europa ein unabgeschlossenes Projekt, das von den Rändern her erneuert wird.“ (Römhild Antrittsvorlesung 2010)

 

Wenn man mit Römhild Kosmopolitisierung, postkolonial weiter denkt, bedeut das, die aktuelle Konfrontation mit den globalen Verflechtungen der kolonialen Moderne „nicht mehr nur in der Ferne der ehemaligen Kolonien, sondern im globalen Hier und Jetzt, gerade auch in der Mitte der europäischen Metropolen“ zu suchen (Ebenda). Kosmopolitisierung führt in diesem Sinne zur Entstehung kosmopolitischer Orte, „Orte, in denen diese Konfrontation lokal sichtbar und lokal wirksam wird.“ (Römhild AV, HU 2010) Eine zentrale Frage von Beck und Sznaider ist die Frage nach der cosmopolitan condition - warum gibt es am Anfang des 21. Jahrhundert diesen kosmopolitischen Moment? Beck und Sznaider glauben, ebenso wie Römhild, dass besonders dieser unfreiwillig gelebte Kosmopolitismus der Migranten, der keine kosmopolitischen Zielsetzungen verfolgt, zunehmend wichtiger wird. Žižek sieht das ganz ähnlich: Die Menschen, die noch utopische Vorstellungskraft haben und sie leben, sind die Menschen in den Slums, in den Auffanglagern, am Rand der Gesellschaft, ohne Rechte und Sicherheiten, denn sie müssen utopisch sein, um zu überleben. Dies sieht Žižek als eine Öffnung im geschlossenen Ideologischen System. (Žižek 2005, siehe FN #13)

 

Kosmopolitisch ist ein Ort wie Słubfurt City gerade deshalb, weil hier die Widersprüche der Kosmopolitisierung offen zutage treten. Implizit oder explizit vorgetragener Rassismus ist laut Römhild ein Ausdruck der gegenwärtigen Kosmopolitisierung. „Beide Phänomene - Migration und der Versuch ihrer Kontrolle und Abwehr - bilden aus der Perspektive der Kosmopolitisierung einen Zusammenhang“.  (Römhild 2010, Antrittsvorlesung: 9) Laut Römhild ist ethnographische Forschung in kosmopolitischen Orten vor allen Dingen „Forschung in den Kontaktzonen und Konflikträumen sich kreuzender Mobilitäten - dort also, wo das Lokale selbst zum Schauplatz und zum Aushandlungsort globaler, postkolonialer Verflechtungen wird“. Gerade in solchen Konfliktzonen entsteht nämlich ein praktizierter Kosmopolitismus "von unten", etwa in Netzwerken der Migration oder politischen und kulturellen Initiativen, „die sich über globale, europäisierte und nationale Grenzregime hinwegsetzen (…); es entstehen Bündnisse mit lokalen Anwohnern und Ökonomien, mit politischen Aktivisten vor Ort und im virtuellen Raum“.  (Ebenda: 9, 10) Auch hier geht es um die soziale Imagination "anderer möglicher Leben", von der Appadurai spricht, und „um eine andere Arbeit am Selbst, die nicht dem modernen Regime des Nationalstaats und auch nicht dem neoliberalen Regime des modernen Kapitalismus folgt, sondern mit den Subjektkategorien, die hier jeweils vorgegeben werden, sozial und kulturell experimentiert“ (Ebenda: 10)

 

 

Probleme und blinde Flecken im Projekt Słubfurt City

 

Die Probleme mit denen Słubfurt konfrontiert ist kommen sowohl von Innen als von Außen. Im Zentrum stehen vier Problemfelder: Rassismus, Sexismus, mangelnde Partizipation und das Problem der Transgression innerhalb der EU Herrschaftsstrukturen.

 

 In seinem Umfeld kämpft Słubfurt damit, von vielen nicht wahrgenommen zu werden. Dies liegt zum Teil sicher an der Ignoranz vieler Bewohner aber auch an einer fremdenfeindlichen Grundstimmung, in der auch Kurzwelly als „Wessi“ oder „Pole“ und damit als Fremder/ Anderer wahrgenommen wird. Diese Fremdenfeindlichkeit äußert sich auch in gescheiterten lokalen Projekten, die für Słubfurt wichtig wären, wie der Tram-Verlängerung über die Oder sowie zumindest der Einführung eines Busverkehrs über „die Brücke der Freundschaft“: „Das Hauptargument dagegen ist, dass die Tramlinie in erster Linie nur den Polen zugute kommt, dass die dann schneller hier sind. Und das möchte man nicht, da hält man sich bedeckt.“ (Interview Hoffmann). Diese Grundstimmung der Fremdenfeindlichkeit führt auch dazu, dass viele der Studenten nicht in Frankfurt-Oder, sondern in Berlin wohnen. (Vgl. Feldtagebuch) Dieses Problem scheint in Frankfurt besonders ausgeprägt, ist aber auch im gesamten deutsch-polnischen Grenzgebiet entlang der Oder (Nowa Amerika) präsent, was auch der Künstler Kai aus Görlitz beschreibt: „Es gibt hier eben noch dieses Fremdheitsthema. Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht hat es was mit der Sprache zu tun? Ich war sehr irritiert darüber als ich her kam, dass diese Trennung noch so vorhanden, es noch so problematisch ist.“

 

Ich vermute Rassismus ist auch ein „inneres“ Problem von Słubfurt, da das Projekt zwar das Verhältnis von Deutschen zu Polen thematisiert, nicht aber das innerdeutsche Grenzproblem oder das Problem des Rassismus anderen „nicht-weißen“ MigrantInnen gegenüber aufgreift. (Vgl. Feldtagebuch) Sicherlich auf einer Art Metaebene, aber da könnte und müsste meiner Beobachtung nach, noch mehr passieren.  Auch Jan Poppenhagen stell fest, dass der Rassismus da ist, „auch wenn wir uns das oft nicht eingestehen oder wahrhaben wollen“. Auch Roland Schefferski betont diesen Punkt: „Es beunruhigt mich, dass viele dazu neigen über „die Fremden“ zu reden. (…) Wir dürfen den Rassismus nicht außer Acht lassen, das passiert nicht nur in Deutschland oder Polen, sondern überall“. Wie wir bei den weiter oben angeführten Theoretikern sehen konnten, gehen Nationalismus und Rassismus Hand in Hand. Während Nationalismus und sich verhärtende Grenzen für Kurzwelly ein offensichtliches Problem darstellen, bleibt der Rassismus im nächsten Umfeld außen vor. Natürlich auch, weil Rassismus bei den SłubfurterInnen als überwunden gilt, dennoch befinden sie sich in einer rassistisch geprägten Umgebung, was auch auf die SłubfurterInnen Einfluss nimmt. Rassismus erscheint teilweise eher wie ein Tabuthema, ähnlich des Tabus, das Kai für Görlitz anspricht“: Die Selbstmordrate in Görlitz ist eine der höchsten in Deutschland. Da wird in der Öffentlichkeit nicht gerne drüber geredet.“ Es scheint zu gelten: wenn es nicht thematisiert wird, bekommt es keinen Raum ergo keine Wirkungsmacht, aber ohne PsychoanalytikerIn zu sein, kann man davon ausgehen, dass das Gegenteil der Fall ist.

 

Wie schon erwähnt ist die Ignoranz oder auch die offensichtliche Ablehnung, wie wir sie selbst bei unserer Stadtführung erleben konnten oder wie sie auf Blogs zur Schau gestellt wird, ein kritischer Punkt. Hier ein Beispiel: „Ja tun Sie der deutschen Stadt Frankfurt(Oder) den Gefallen und bringen Sie sich mit der Steuergeld vernichtenden Vereinigung Słubfurt nicht mehr in unsere Stadt ein. Gerade Sie bringen sich in den Focus. (…). Entzieht dem Słubfurt(Brech) Verein sämtliche finanziellen Mittel, denn dieses Machwerk braucht ganz bestimmt kein Deutscher und kein Pole“.[15] Allerdings haben mehrere Interviewpartner diese Reaktionen auch als Bestätigung gesehen, dass Słubfurt funktioniert: „Mir ging es darum die Leute (wach) zu rütteln, die in zwei Mikrowelten leben, die voneinander nichts wissen wollen. Das Projekt Słubfurt City existiert ja schon eine Weile, trotzdem wollen viele immer noch nicht wahrhaben, dass es so ist. Aber so eine Realitätsverweigerung bringt einen nicht weiter.“ (Interview Roland Schefferski) Jan Poppenhagen argumentiert ähnlich, wenn er sagt: „Einige sehen Słubfurt als Problem, aber das bestätigt nur meine Annahmen und Erfahrungen. Die Leute haben Angst, dass die Realitäten in denen sie leben, ihre Grenzen und Identitäten, dadurch in Frage gestellt und sogar angegriffen werden. ‚Es ist nicht so, es darf so nicht sein’.“

 

Wenn sich dieser Unwillen auf institutioneller Ebene äußert, kann dies natürlich zur enormen Verlangsamung der Aktivitäten (siehe Tramprojekt) und auch Desillusion der Aktiven führen, was sich dann wiederum in mangelnder Partizipation widerspiegelt, die ein Projekt zum Stagnieren oder auch zum Stillstand bringen kann. Es kann auch zu absurden Konfrontationen führen: „Beim Neujahrsempfang gab es ja großen Knartsch vorher. Ich bin von einigen Vereinen angegriffen worden, weil ich die Veranstaltung am 27.Januar gemacht habe, weil das der Holocaust Gedenktag ist und die Stadt hatte im Kleistforum eine große Veranstaltung gemacht, wo auch viele hingegangen sind. Es hieß dann schriftlich, es wäre unsensibel am Holocaustgedenktag so eine bürgerliche Veranstaltung zu machen. Ich schrieb zurück, dass das ja wohl auch Holocaustgedenken ist, indem ich auf eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber hinweise. Das wurde nicht verstanden und nicht akzeptiert.“

 

Eine solche institutionelle Abwehr kann auch dazu führen, dass mangels öffentlicher Berichterstattung oder möglicher daraus resultierender privater Gespräche, eine große Zielgruppe nicht erreicht wird, sondern immer nur jene, welche ohnehin schon genauso denken und handeln. Wie Frau Hoffmann es hier andeutet: „Die Aktionen, die bisher laufen, wovon ich nichts mitbekommen habe, sind vielleicht eher für einen etablierten Kreis, der sich damit beschäftigt. Kulturschaffende, Studenten, Schüler – vielleicht laufen die Projekte eher da und greifen nicht weiter in die Bevölkerung, so dass es noch wenig Berührungspunkte gibt.“ Ihre Äußerung verweist auf diese innere Dimension der Problematik, nämlich von der Ausrichtung her quasi auch auf eine Weise „elitär“ zu sein. Das liegt zum Teil in der Natur der Sache selbst, wie Poppenhagen es darstellt, denn wie er sagt, verstehen viele den Grundgedanken von Słubfurt erstmal nicht, können nichts damit anfangen, deshalb erscheint es ihm sinnvoll „Słubfurt nicht mit dem Kopf begreifen zu wollen. Denn dann ist es sehr abstrakt, so wie die Nationalgrenzen. Räume sind von vornherein etwas sehr abstraktes.“

 

Ein weiteres Problem sehe ich in den Geschlechterverhältnissen. So sind in Słubfurt City viel weniger Frauen eingebunden und aktiv. Anders als bei Nowa Amerika, was damit zusammenhängen könnte, dass in Frankfurt Oder tatsächlich besonders schwierige historische Umstände vorherrschen, was einige InterwiewpartnerInnen anführten. Anderseits scheint es doch eher ein grundsätzliches, gesellschaftliches Problem, welches sich auch hier widerspiegelt. So vermutet Jolanta Reimann, dass die Männer wohl mehr Zeit hätten: „Ja, es stimmt, dass die Frauen bei Słubfurt eher schwach vertreten sind. Ich weiß nicht, warum es so ist. Vielleicht hängt das mit der Rolle der Mutter zusammen oder auch nicht? Ich musste mich aus dem Grund zurückziehen.“ Michael Kurzwelly erwiderte, darauf angesprochen, dass ich dazu doch die Frauen befragen müsste, warum sie nicht dabei sind. Genau dies ist meiner Meinung nach allerdings eine Fehleinschätzung der Situation. So sind dies auf der Makroebene ja ganz offensichtlich keine Zufälle, sondern die Folge gesellschaftlicher Machtstrukturen, die auch auf der Mikroebene stets hinterfragt werden sollten. Warum sind hier so wenig Frauen aktiv? könnte man fragen und beschließen, dort aktiv dagegen zu steuern.  

 

Ebenso haben wir bei NSK-State festgestellt, dass Gender bzw. die Abwesenheit von Frauen eine Schwachstelle im eigenen System ist. So wurde diese Thematik ausführlich von den Delegierten in den Arbeitsgruppen besprochen, tauchte aber nicht im finalen Statement der Delegierten auf. Facilitator Connor kommentierte: „The whole gender debate was lost at the final day“. So scheint das Thema allerorts so „selbstverständlich“, dass es nie wichtig genug erscheint, um auf eine Agenda zu kommen. Ich sehe aber gerade in diesem Punkt großes zukünftiges Potenzial für Słubfurt. Denn laut Moser ist die Offenheit und Durchlässigkeit in unterschiedliche Richtungen zentral ist für den Dritten Raum (Moser 2011: 123), der Słubfurt zweifelsohne sein möchte. „Denn im Gegensatz zu den Forderungen der Avantgarde verfolgen postkoloniale Konzepte des Dritten Raums nicht die Aufhebung des Unterschieds zwischen Kunst und Leben, sondern als kleiner Variante die Realisierung eines Zwischenraums, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Leben temporär aufgehoben werden.“ (Ebenda)

 

Das letzte und meines Erachtens gravierendste Problem von Słubfurt, ist das Problem der Transgression in der Gegenwart. Denn die Grenzüberschreitung ist bereits in die Herrschaftsstrukturen inkorporiert worden. Die Nationen, Unternehmen und Grenzregime arbeiten bereits selber im Rahmen der EU-Erweiterung transgressiv: “Whereas until World War II nationalism and imperialism were combined, the discourse changed after 1945, and rapidly after 1989. European politics and European discourse have entered the field. Cross-border cooperation has become a strong theme in European policy and in the German-Polish representations of the Other.” (Best 2006: 201) Deshalb fragt Ulrich Best: „What is the role for critical practice under such a new constellation?“ (Best 2006: 185) Best bezieht sich ganz konkret auf das Beispiel Deutschland und Polen und zeigt auf, wie deutsche Firmen und staatliche Institutionen, die Grenze längst permanent überschreiten und sich Anteile am polnischen Markt auf kolonialistische Weise einverleiben und wie sich ihr „Western Gaze“ unverhohlen z.B. in der Presse niederschlägt: „The contours of this “imperial” structure are well visible in German-Polish relations, and they complement – and thereby change - structures that seem to replicate previous colonial relations.“ (Best 2006:204)  Best versucht diese Veränderungen mit Bezug auf Foucault und Deleuze zu verdeutlichen: „The soceity of control, (…) is the state taken over by movements of deterritorialization and the transgression of borders in a continuous movement of control. The definition of interior – as clearly enclosed consistency, laws, rules, structures – and exterior has faded away. Societies of control define themselves through the embrace of change.” (Best 2006: 191). Best bezieht sich dabei auch auf Hardt und Negri, die selbigen Prozess durch den Begriff des „Empire“ beschreiben. Es stellt sich die Frage, wie Widerstand innerhalb des Empire überhaupt möglich ist? „Border transgression is not revolutionary anymore, and maybe it never was. There is a potential in the issue of the border, however.” (Best 2006: 192)

 

Nach vielen schockierenden Beispielen, die Best für den nach wie vor aktuellen neokolonialen Blick oder den Western Gaze von Deutschland auf Polen anführt, durch den reterritorialisiert wird, endet er nicht ohne ein Positivbeispiel, das gleichzeitig die oben aufgeworfenen Frage ansatzweise beantwortet: Wie ist Widerstand innerhalb des Empire möglich? Eine Mitarbeiterin in der Stadtverwatung Szczecin schildert ihre Begegnungen mit den Deutschen Anderen, die sie durch eine Städtepartnerschaft mit Berlin-Kreuzberg gemacht hat: „Even if it was a five-minute talk, an exchange of opinions on something, it is a two-way learning process, and you cannot measure it.“ Worin Best hier das Potential sieht, ist der Umstand, dass obwohl sie Mitarbeiterin der Verwaltung ist, sie dieses Interesse losgelöst von ihrer staatlichen Funktion sieht und lebt: “She points out the potential of everyday transgression (…) without the need for being controlled or inhibited, and without the need for being under supervision. Her own life incorporates a “natural” interest and ordinary movement across the border.” (Best 2006: 203)

 

Ich denke genau in diesem Punkt liegt eine Stärke von Projekten wie Słubfurt und Nowa Amerika, die aber aufpassen müssen, nicht von den Strukturen vereinnahmt zu werden, zumal die Projekte auf staatliche Fördergelder angewiesen sind. Den Zuspruch, den die Projekte momentan von allen Seiten erhalten (Bundeszentrale für Politische Bildung, Kulturstiftung des Bundes, EU-Fördertöpfe etc) sollte auch eine besonders kritische Selbstreflektion nach sich ziehen, nicht erst, wenn auch die Bundeskanzlerin, die NPD oder der Pabst diese Projekte “ganz wichtig finden“. Hierzu noch einmal abschließend Best: „Finally new structures of power also require new ways of practice (…) Border transgression is no longer critical of the state, but has been turned into a rule. There is therefore an important question to be asked about the changed role of critical practice”. (Best 2006: 204) Vielmehr ist das Potenzial bereits in einer Haltung begründet, die dies hinter sich gelassen hat, wie Poppenhagen es indirekt andeutet: „Grenzüberschreitung klingt nach: Da ist eine Grenze und die müssen wir überschreiten, aber so sehe ich das nicht, denn es gibt ja gar keine Grenze, diese Grenze zwischen Deutschland und Polen zum Beispiel. Wir überschreiten die Grenzen ja schon die ganze Zeit, deshalb spielen sie keine Rolle.“

 

 

Schluss: Słubfurt City als kosmopolitischer Ort eines anderen Europas

 

Zum Schluss möchte ich mein Forschungsfeld und die Analyse in direkten Bezug mit unserem Thema des Studienprojekts „Andere Europas“, in dessen Rahmen die Forschung stattfand, bringen. Dabei werde ich gleichzeitig versuchen, meine These von Słubfurt und Nowa Amerika als kosmopolitische Orte auszubuchstabieren.

Dafür ist es hilfreich, die Akteure zu Wort kommen zu lassen und was für sie Słubfurt eigentlich bedeutet. So war es für den Initiator Michael Kurzwelly ganz wichtig den „Nationalraum“ hinter sich zu lassen: „Ich habe festgestellt, dass der Nationalraum nichts mit meiner Identität zu tun hat. Er wirkt natürlich auf meine Identität ein, aber eher einengend. Und deshalb will ich ihn loswerden und mit Słubfurt bin ich ihn ja schon längst losgeworden.“ Für Haerdter, den Słubfurter Botschafter in Berlin, ist Słubfurt ein Beispiel für ein grenzüberschreitendes Europa: „Słubfurt ist für mich auch ein Weg zur Erfüllung einer Hoffnung auf Europa, dass es wieder anders wird. Dass es auch die Anderen Europas wieder zu finden gibt.“ Die kosmopolitischen Orte stellen laut Römhild die Frage nach Anderen Europas im doppelten Sinn, „einmal im Sinne der Anderen, die der dominante Diskurs des weißen, christlichen, modernen Europas ausschließt, zum anderen im Sinne anderer Vorstellungen und Praktiken Europas, die dieses Ausgeschlossene einschließen.“  (Römhild 2010, Antrittsvorlesung: 10)

 

Für Jolanta Reimann ist Słubfurt ein Raum, „wo einige Menschen manchmal so in den Gedanken vertieft sind, dass sie das Überschreiten und Überqueren der Grenzen nicht bemerken und manchmal nicht wahrnehmen. Das ist eine Stadt, in der die Gesetze der Natur herrschen: die Luft kennt keine Grenzen, die Vögel machen sich keine Gedanken über den Raum, indem sie sich bewegen, der Himmel ist blau oder grau auf beiden Seiten des Flusses, die Sonne scheint auf beiden Seiten. Ich hoffe, dass Słubfurt eine Stadt ist, wo die Menschen nichts von den aufgezeichneten Grenzlinien auf der Karte halten.“ Słubfurt scheint in seiner transgressiven Qualität auch einer Metapher zu gleichen, die stark mit dem Moment der Identität verflochten ist. So betonen Kurzwelly, Poppenhagen und andere die Bedeutung für die Reflektion der eigenen Identität. Reimann formuliert es so: „Ich fühle mich öfter als Ausländer in beiden Staaten. Słubfurter zu sein ist eine Erfahrung. Wenn du die Kultur des anderen Landes so hautnah erlebst, kannst du erst die eigene Kultur besser wahrnehmen“.

 

Viele betonen gleichzeitig den utopischen Moment des Projekts: „Słubfurt ist die Utopie Europas ohne Grenzen. (…) Die eigene Identität zu hinterfragen, die Fähigkeit zu haben, sich außerhalb seiner eigenen Sichtweise und Identität zu stellen und zu fragen: Wer bin ich? Kann ich etwas verbessern? Muss ich etwas korrigieren? (…) Das ist Słubfurt. Sich als Deutsche und Polen reflektieren. (…) Die Grenzregionen sind jetzt von ungeheurer Wichtigkeit.“ (Michael Haerdter) Für Poppenhagen geht die eigene Reflektion mit allgemeinen, existenziellen Fragen einher: „Słubfurt ist für mich auch die Utopie von gerechteren Lebensbedingungen, denn keiner verlässt seine Heimat gerne. Das ist mein Wunsch, mein Traum und daran halte ich auch fest.“

 

Laut Žižek ist die soziale Ordnung heute sehr fragil. Hinzu kommt, dass wir bereits in einer Matrize leben und nicht mehr in der Realität. Das führt auch dazu, dass man laut Žižek heute lieber dem Exzess begegnet als dem Anderen. Žižek sieht die Ursache in einem Mangel an utopischer Vorstellungskraft. Wie können wir dem Begegnen? Wir haben gesehen, dass Słubfurt diesem Mangel mit Hilfe von künstlerischen Strategien, mit „anarchischer Sprengkraft“ wie der Wirklichkeitskonstruktion begegnet. So hat Haerdter in seiner Rede bei der Słubfurter Parlamentssitzung im März dargelegt, worin sich das utopische Potenzial von Słubfurt zeigt: „Słubfurt ist bereits die Phase der Tat, die auf das Denken und Wollen folgt: Mit dem Brückenschlag über die Oder stellen die Słubfurter sich mutig gegen den Mainstream, nehmen sie Europa beim Wort. (…) Słubfurt ist das Selbstverständliche: ein Projekt für die Menschen zugunsten ihrer freundlichen Nachbarschaft, für Kommunikation und wechselseitigen Austausch  gegen  die Trägheit im Denken, gegen das Beharren auf eingeübten Barrieren der Furcht und der Vorurteile. Słubfurt ist so etwas wie eine Klinik zur Behandlung einer chronischen europäischen Krankheit mit hohem globalem Ansteckungspotential.“

 

Das utopische Potenzial, der kosmopolitische Ort, Andere Europas, Asiens, Afrikas usw. gehen Hand in Hand, könnte man  sagen. Laut Römhild führt der Blick auf kosmopolitische Orte die Multi-Sited-Ethnography zurück ins Lokale. (Römhild 2010, AV: 11) Es geht um die lokale Herstellung von Orten - dem "place making"[16]. Und es erfordert, die Untersuchung der Reichweite sozialer Nachbarschaften, die in einem Ort aufeinander treffen. „Denn soziale Nähe - oder Lokalität, wie Appadurai formuliert - ist ebenso wenig durch den geographischen Raum vorgegeben, sondern muss aktiv und heute zunehmend in translokalen, transnationalen Zusammenhängen hergestellt werden“. (Ebenda: 11) Das betont auch Moser in ihrer Untersuchung postkolonialer Kunstpraktiken, die sich dadurch auszeichnen, „dass sie lokal – das heißt auf Grenzabschnitte, einen Ort, eine Region, den öffentlichen Raum einer Stadt etc. begrenzt und weitgehend temporär angelegt sind. (…) Durch die Betonung des Lokalen rücken jedoch Handlungsmöglichkeiten ins Bild, die auf globaler Ebene nicht erreicht werden können.“ (Moser 2011: 298/ 299). Das utopische Potenzial liegt aber auch in einer ganz konkreten Zurückeroberung der Vergangenheit und damit auch einem Teil der Gegenwart. So besteht laut Balibar das Paradoxe an der Situation nach 1990 darin, dass nach dem Ende des Totalitarismus so getan wird, als habe es in Europa nur eine einzige Gesellschaft gegeben, als sei der „reale Sozialismus“ ein imaginäres (…) System gewesen“. (Balibar 2005: 270) Słubfurt und Nowa Amerika eignen sich so - im doppelten Sinn - auch eine „verdrängte“ Geschichte auf beiden Seiten der Oder an.

 

Viele Aktivisten sagen Słubfurt sei nicht nur eine Utopie, sondern eine Utopie für Europa. Für Kurzwelly ist das zu kurz gegriffen: „Man kann es so sehen, aber mir selber ist das relativ egal. Ich sehe auch die Gefahren von Europa, wie die festwerdenden Grenzen nach außen. (…) Słubfurt stellt natürlich die Frage danach, wie ein solches utopisches Europa sein könnte. Allerdings könnte man das Projekt genauso an der mexikanisch-amerikanischen Grenze machen, insofern bezieht es sich natürlich nicht nur auf Europa. (…) Ich denke, wir müssen uns diese Raumfrage überall auf der Welt stellen, denn wir haben es überall mit dem gleichen Problem zu tun. Die Nationen und der Nationalismus haben sich über die ganze Welt verteilt.“ Jan Poppenhagen betont die latente Gefahr des Eurozentrismus, aber auch, dass Europa nach wie vor ein unabgeschlossenes Projekt ist: „Von Europa geht natürlich historisch und auch gegenwärtig eine bestimmte Energie aus, die den Rest der Welt beeinflusst hat. Aber die Frage, wo Europa anfängt und wo Europa aufhört ist ja noch nicht geklärt. Wie weit reicht Europa in den Osten, vor allem kulturell? Für viele ist Europa schon da vorbei, wo die sozialistische Vergangenheit anfängt. Für mich geht Europa aber ganz tief in den Osten.“ Schefferski sieht in dem historischen Bruch aber auch Chancen: „Das Internet bringt neue Möglichkeiten. Auch, wenn Globalisierung nicht nur positiv ist, bringt sie auch das Potenzial für positive Veränderungen mit sich. Auch weil sie viele der altbekannten Ordnungsmuster in Frage stellt.“

 

Eine andere Formulierung für einen Dritten oder kosmopolitischen Ort könnte Michael Haerdters Begriff der „amphibischen Zone“ sein. Dies ist „der Bereich zwischen Land und Wasser. Das Leben ist ja aus dem Wasser gekommen und die amphibische Zone ist dieser Bereich der Fruchtbarkeit zwischen Wasser und Festland, dieser Schlammbereich in dem alles passiert und wo sich Leben entwickelt. Ich verbinde das mit Veränderung und Wandel, ein Land ohne Grenzen. Słubfurt ist eine amphibische Zone.“ Denn wie Haerdter betonte sind die Künstler freier als die Politiker. Und er zitiert Helmut Schmidt, der immer gesagt hat, „wer in der Politik Visionen hat der soll zum Arzt gehen“. Deshalb brauchen wir laut Haerdter die Künstler, denn sie haben das große Privileg Visionen entwickeln zu können. Dies betonte er auch bei seiner Rede auf der Słubfurter Parlamentssitzung im März: „Es ist eine Erfahrung meines langen Berufslebens mit den und für die Künste und Künstler, dass diese und nicht die Politiker die Nase vorn haben, was die Vision einer lebenstauglichen Zukunft betrifft.“

 

Moser betont, dass die künstlerische „Arbeit an der Gesellschaft“ von einer politischen Praxis nicht zu trennen ist – „sie bewegt sich immer in einem liminalen Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik. Wesentlich ist dabei jedoch, wie sich ein Kunstprojekt in Bezug auf die Gesellschaft bzw. das politische System positioniert.“ (Moser 2011: 114) So braucht es immer Netzwerke und Gleichgesinnte denen wir auf Augenhöhe begegnen, um sich den staatlichen Vereinnahmungen entgegen-zustellen. Deshalb schlägt Kai vor, dass man sich im Kampf gegen EU-Bürokratie mit den Polen verbünden, von ihnen lernen muss: „Die Polen lassen sich nicht so leicht staatlich organisieren, sie haben ja auch gegen die Nazis gekämpft“ von daher kann man hoffen, „dass sie auch, um ihre Kulturgüter kämpfen“ werden. Denn bei allen historischen, politischen und psychologischen Differenzen gibt es den gemeinsamen Moment, welcher auch einer Wirklichkeitskonstruktion wie Słubfurt zugrunde lag: „Das Gemeinsame ist natürlich die Zukunft“. (Michael Kurzwelly) Um es mit den Worten Balibars zu sagen: „Man darf wohl annehmen, ohne sogleich des Idealismus bezichtig zu werden, dass die Lösung (…) in einem klar formulieren Projekt der Integration aller Staaten und Völker des europäischen Raums in ein einheitliches Territorium der Bürgerschaft liegt, das egalitär oder „kosmopolitisch“ konzipiert ist“. (Balibar 2005: 275/276)

 

 

[1] Aus dem Feldtagebuch, alle Zitate aus dem Transkript zur Slubfurt Stadtführung am 26.5.2011

[2] Aus: Projektbeschreibung Ausstellung „Menschen an Oder und Neiße“

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Kurzwelly, Zugriff  28.01.2011

[4] http://www.slubfurt.net, Zugriff  28.01.2011

[5] Michael Kurzwelly: Nowa amerika tours, Slubfurt e.V.

[6] Aus: Nowa Amerika Reiseführer

[7] www.arttrans.de - Zugriff 13.02.2011

[8] www.slubfurt.net, - Zugriff 30.01.2011

[9] Neue Slowenische Kunst

[10] Bianca Ludewig, Contribution for NSK-Citizen-Congress. In: “State of Emergence – The First NSK Citizens’ Congress”, Poison Cabinett Press/Plöttner-Verlag, 2011.

[11] Inke Arns beim NSK-State Citizen Congress 2010, Berlin

[12] Die slowenische Band Laibach repräsentiert den musikalischen Teil des Kollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK), sie gehören auch zu den Gründungsmitgliedern von 1984. Mit dem Namen Laibach, dem deutsch-sprachigen Namen der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, schuf man bewusst Reibungspunkte.

[13] In: „Alien, Marx & Co. Slawoj Žižek, ein Portrait“. Fernsehdokumentation ZDF/Arte, Susan Chales de Beaulieu, 2005.

[14] . Vgl. Victor Turner, Arnold van Genneps

[15] http://www.moz.de/kommentare/mc/977310/75/, Zugriff 01.09.2011

[16] Vgl. Doreen Massey

 

Literatur, Quellen:

 

Arjun Appadurai: Modernity at Large – Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis/ London, University of Minnesota Press.

Arns, Inke (Hg.): Irwin – Retroprincip 1983-2003, Frankfurt/ Main, Revolver 2003.

Bachmann-Medich, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reibeck, Rowohlt 2006.

Balibar, Etienne: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburger Edition, Hamburg 2003.

Balibar, Etienne: Die Grenzen der Demokratie. Hamburg, Argument Verlag 1993.

Beck, Ulrich & Natan Sznaider: Unpacking cosmopolitanism for the social sciences: a research agenda. In: British Journal of Sociology, 57. 2006.

Best, Ulrich: Between Cross-Border Cooperation and Neocolonialism: EU Enlargement and Polish-German Relation. In: Salvatore Engel-Di Mauro (Hg.), The European’s Burden – Global Imperialism in EU Expansion, S. 183-209, Peter Lang Verlag 2006.

Boatca, Manuela: No Race to the Swift - Negotiating Racial Identity in Past and Present Eastern Europe. In: Human Architecture, OKCIR Press.

Bourdieu, Pierre: Ortseffekte. In: Das Elend der Welt. Konstanz, Universitätsverlag 1997.

Buchowski, Michał: Das Gespenst des Orientalismus in Europa. In: Anthropological Quarterly #79, 2006, S.463-482. (Ich habe die deutsche Übersetzung benutzt, für die ich keine finalen Angaben habe).

Chardi, Sharad & Katherine Verdery: Thinking between the Posts: Postcolonialism, Postsocialism, and Ethnography after the Cold War. Society for the Comparative Study of Society and History, 2009.

Hann, Christorpher (Hg.): Postsozialismus. Transformationsprozesse in Europa und Asien aus ethnologischer Perspektive. Frankfurt/New York, Campus Verlag 2003?

Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration, DuMont Verlag 2005.

Kurzwelly, Michael: Slubfurt City Guide, Slubfurt e.V. 2010.

Moser, Anita: Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkolonialie Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik. Bielefeld, Transcript 2011.

Lefébvre, Henri: Die Revolution der Städte. München, Paul List Verlag 1972.

Römhild, Regina: Im postkolonialen Hier und jetzt: Kosmopolitische Orte. Antrittsvorlesung, Institut für Europäische Ethnologie, HU Berlin, Institutkolloquium Dezember 2010. (Wie kann ich da genauere Angaben machen?)

Römhild, Regina: Alte Träume, neue Praktiken – Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas. In: Turbulente Ränder. Bielefeld, Transcript Verlag 2007.

Said, Edward: Orientalism. New York, Random House 1979.

Silva, Armando: Imaginarios Urbanos. Bogotá & Sâo Paulo - Cultura y comunicación urbana en América Latina. Bogotá, Tercer Mundo Editores, 1992.

Silva, Armando (Hg.): Urban Imaginaries from Latin America. Dokumenta11/ Hatje Catz Publishers 2003.

Stachelhaus, Heiner: Joseph Beuys. Düsseldorf, ECON Verlag 1991.

Žižek, Slavoj: Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche. Wien, Passagen Verlag 2008 (1996).

 

Weiterführende Literatur:

 

Appadurai, Arjun: The Power of Imagination. In: Projekt Migration, S. 50-62, DuMont Verlag 2005.

Beck, Ulrich & Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa. Frankfurt, Suhrkamp 2004.

Braidotti, Rosi (ed.): On becoming Europeans, In: Women Migrants from East to West. Gender. Mobility and Belonging in contemporary Europe. Berghahn Books, 2007, S.33-50.

Davies, Norman: Heart of Europe. The Past in Poland’s Present. New York, Oxford University Press 2001 (1984).

Fabian, Johannes: Memory against Culture – Arguments and Reminders. Duke University Press, 2007.

Grzinic, Marina und Günther Heeg, Veronika Darian (Hg.): Mind the Map! History is not given. Leipzig/ Ljubljana/ Frankfurt am Main, Revolver 2006.

Randeria, Shalini & Sebastian Conrad (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Frankfurt/ New York, Campus Verlag .

Römhild, Regina: Aus der Perspektive der Migration: Die Kosmopolitisierung Europas. In: Das Argument # 285, 2010, S. 50-59.

Schmelz, Andrea & Tanja Lenuweit (Hg.), Erinnerungen in Kultur und Kunst – Reflexionen über Krieg, Flucht und Vertreibung in Europa, Transcript 2009.

Szarota, Tomasz: Stereotype und Konflikte. Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen, fibre Verlag, Osnabrück 2010.

Tokarska-Bakir, Joanna: Poland as the sick man of Europe? Eurozine 2003, S. 3-10, Zugriff 05.09.2010.

 

Quellen:

 

Interviews: Michael KurzwellyRoland Schefferski, Jan Poppenhagen, Michael Haerdter, Dorothea Braemer, Marie Kuhn, Magda Zietkiewicz, Klaus Pocher, Bartosz Wójcik, Dagmar Kaltenhäuser, Przemek Jackowski, Jolanta Reimann, Frau Hoffmann, Kai aus Görlitz.

 

Weitere Quellen:  

 

Filme, Flyer, Prospekte, Fotos, Feldtagebuch.

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