Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Gründungsdirektor im Interview

Wolfgang Kaschuba (Foto)

Unser Institut ist eben doch ein bisschen mehr als nur eine akademische Service-Einrichtung.

Der Mitgründer und mittlerweile ehemalige Institutsdirektor Wolfgang Kaschuba sprach im Interview (2013) über gute Gründe, Europäische Ethnologie zu studieren, darüber, wie international das Fach eigentlich ist, wie man das Fach am Kaffeetisch erklären kann und warum eine gute Ausbildung auch mit persönlichen Glücksgefühlen zu tun hat.


Warum sollte ich überhaupt Europäische Ethnologie studieren?

Weil Europäische Ethnologie vielleicht nicht reich macht, aber klug und nachdenklich. Und das ist nun gar nicht so arrogant gemeint, wie es vielleicht klingt. Ethnologie vermittelt einfach vielfältiges Wissen über die Welt und über die Gesellschaft, vor allem über deren kulturelle Traditionen und Prägungen als Regelsysteme des Alltags der Menschen. Blickend zurück auf historische Vorgänge: Wie ist die Gegenwart geworden? Und wir beobachten aktuelle Prozesse, um zu verstehen, wie sich Gesellschaften, Gruppen und Individuen weiterentwickeln. Kultur und Gesellschaft werden also als ein komplexer Prozess verstanden, in dem das Ich und das Wir, das Wir und die Anderen, das Lokale und das Globale in sich immer wieder verändernden Zusammenhängen und Bedeutungen hergestellt werden.

Zum zweiten entspricht diesem prozesshaften Verständnis von der Welt und ihren Kulturen auch das Studium. In unserem Institut ist es nämlich als „Projektstudium“ organisiert, in dem die Studierenden im Rahmen von Themenseminaren, Projektseminaren und mehrsemestrigen Studienprojekten sich gemeinsam Themen und Felder erschließen, in denen solche gesellschaftlichen Prozesse des Entwurfs von Selbst- und Fremdbildern wirksam werden. Ob Migration oder städtische Gentrifizierung, Volksfest oder Museum, Ökowissen oder Geschichtsdenkmal: Immer werden da Ichs und Wirs verhandelt, also soziale und regionale, ethnische und geschlechterbezogene Identitätsentwürfe.

Insofern ist die Europäische Ethnologie – drittens – durchaus auch ein „politisches“ Fach. Es beobachtet gesellschaftliche Akteure und Prozesse und muss in diesem Raum dann auch selbst Position beziehen: also klarmachen, aus welcher Perspektive die Forschung betrieben wird und welche Schlussfolgerungen und Deutungen aus der wissenschaftlichen Analyse entwickelt werden. Wir sind also immer sehr nahe an der Gesellschaft, an ihren kulturellen Potentialen wie sozialen Problemen. Und das ist wichtig, weil wir uns damit nicht in einem „akademischen Elfenbeinturm“ einbunkern können und wollen.

Zum vierten spielt bei uns die „subjektive Seite“ eine wichtige Rolle: nicht nur, weil wir uns intensiv um das Verstehen der gesellschaftlichen Subjekte bemühen, sondern weil auch wir uns selbst in der Forschung mitdenken müssen. Wir sind es, die Themen auswählen, Problemstellungen entwickeln, die andere Menschen beobachten und mit ihnen Interviews führen. Dabei lernen wir auch, über unsere eigenen Bilder und Handlungen nachzudenken. Insofern begleitet das Ethnologiestudium im Grunde genommen auch in sehr angemessener Weise das studentische Leben in der Großstadt Berlin, weil wir immer wieder mit Themen und Orten zu tun haben, die auch im studentischen Alltag eine Rolle spielen. Und das bedeutet dann eine doppelte Kompetenz: die wissenschaftliche Kompetenz – wie erforsche ich das? – und zugleich die Alltagskompetenz – wie lebe ich damit?

Fünftens sind wir vielleicht nicht die Piraten der Karibik aber doch ein wenig „Freibeuter“ der Themen und der Felder. Denn wir erschließen sehr vielfältige Themenkomplexe, legen Fragestellungen „quer“ an, so dass sich etwa Schnittmengen mit HistorikerInnen, KulturwissenschaftlerInnen, PädagogInnen oder SprachwissenschaftlerInnen ergeben. Und wir wollen auch nicht primär Experten von Themen und in Feldern sein, sondern Expertise für Fragestellungen und Forschungsperspektiven entwickeln. Wie sich etwa Gruppen sozial konstituieren und kulturell organisieren lässt sich in ganz unterschiedlichen Orten, Situationen und Gesellschaften beobachten. Entscheidend ist der Blick auf die Praktiken und Bilder, mit deren Hilfe die Akteure dann eben ihr gemeinsames „Wir“ herstellen.

Und sechstens schließlich glaube ich, dass unsere sehr lebendige Institutskultur für Studierende attraktiv ist. Wer hier studiert, tut das nicht isoliert, sondern bringt sich ein in Arbeitsgruppen und Initiativen, die das Studium, aber auch die persönlichen Interessen strukturieren helfen. Es gibt eine sehr aktive Fachschaft, viele Kleingruppen, die auch mit Film, Kunst oder Musik im Stadtraum Verbindung haben. Und der Kontakt mit früheren Studierendengenerationen organisiert sich allmählich in einem regelrechten Netzwerk, über das während des Studiums oder danach eben auch Praktika, Projektmitarbeiten und Jobs vermittelt werden. Unsere Verbleibstudien zeigen, dass nicht wenige unserer AbsolventInnen ihren ersten Arbeitsplatz nicht über Bewerbungen, sondern über bestehende Kontakte erhalten haben.

 

Können Sie sich noch daran erinnern, warum Sie sich damals entschlossen haben, Empirische Kulturwissenschaft zu studieren?

Das waren eben die Jahre unmittelbar nach 1968, als ich wie viele andere der Überzeugung war, dass ein Studienfach auch unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten gewählt werden muss. Die Europäische Ethnologie hieß in Tübingen damals Empirische Kulturwissenschaft, davor noch Volkskunde. Und ein Fach, das vor allem durch die NS-Zeit so hoch belastet war wie die Volkskunde und das sich dann nach 1968 versuchte, von dieser hochbelasteten Tradition zu lösen, das fand ich interessant. Für mich war es damals möglich, auch meinen eigenen politischen Horizont mit einzubringen. Und der bestand eben ganz wesentlich auch in grundsätzlicher Kritik an dieser westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und in der Vorstellung, daran etwas ändern zu wollen. Und die Idee war eben, die eigene politische Überzeugung dann nicht an der Seminartür abzulegen, sondern seine Überzeugungen mit in das Studium hineinzubringen. Und das EKW-Studium damals war dann in der Tat ungeheuer lebhaft, immer wieder verwickelt in Auseinandersetzungen mit der Fachgeschichte wie mit aktuellen Themen. Und immer wieder ging es dabei auch um ganz grundsätzliche Fragen von Emanzipation und Gleichheit, von Verteilung und Gerechtigkeit, von Gemeinschaft und Gesellschaft. Also um Fragen, wie wir sie uns heute auch noch stellen.

 

Sie haben ja einen Weg hinter sich vom Empirischen Kulturwissenschaftler mit damals noch regen volkskundlichen Einschlägen, hin zum Europäischen Ethnologen – macht das einen Unterschied?

Ich empfinde das fachlich wie persönlich schon als einen außerordentlich wichtigen und weiten Entwicklungsweg hin zur Europäischen Ethnologie. Denn in meinen ersten Studienjahren waren wir vielfach doch sehr im Regionalen befangen, in Auseinandersetzungen mit der Fachvergangenheit wie der NS-Geschichte zum Beispiel, so dass in Tübingen zunächst eine sehr wichtige und kritische Form der regionalen Kulturgeschichte und Regionalethnografie entstand. Wie dörfliche Gemeinden den Nationalsozialismus er- und durchlebten, wie sich Arbeiterorganisationen und Arbeiterkultur entwickelten, wie Universitätsstädte zwei getrennte soziale Welten verkörpern konnten: Das war ungeheuer aufschlussreich und auch politisch wirksam. Doch der Horizont blieb da eher noch begrenzt, sowohl was die Themen anging als auch die Theorien. Nach dem notwendigen ersten Lernschritt, das sozial und kulturell „Andere“ erforschen zu lernen (etwa im Blick auf dörfliche und Arbeiterkulturen der Vergangenheit), musste dann der zweite Schritt erfolgen, der dann explizit europäische und globale Perspektiven erschloss. Da erst konnte man dann die Methoden tatsächlich universell zu erproben versuchen, konnte gesellschaftliche und kulturelle Vergleiche zwischen unterschiedlichen Gruppen, Regionen oder Gesellschaften anstellen. Und erst damit erschloss sich dann auch ein internationaler Diskussions- und Theorieraum, in dem man dann Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich oder Schweden, aus England oder den USA näher kennen lernte. Als ich dann 1992 nach Berlin gekommen bin, habe ich ganz bewusst auch manche meiner „alten“ und oft auch engeren Themen in Tübingen zurückgelassen, um mich hier nicht nur auf eine neue und große Stadt sondern eben auch auf neue Themen und Horizonte einlassen zu können. Und das scheint mir gerade in unserem Fach eine ganz wesentliche und wichtige Erfahrung: dass man sich eben nicht nur ein oder zwei Forschungsfelder erschließt, die dann von der Masterarbeit bis zum Ruhestand ein Leben lang durchgepflügt werden, sondern dass wir buchstäblich lernfähig bleiben, uns immer wieder neue Themen und Felder und damit auch Expertisen erschließen. Ich empfinde das als einen unschätzbaren Vorzug. Und diese Offenheit und Internationalität der Europäischen Ethnologie schlägt sich ja auch heute bereits im Studium nieder: sowohl im thematisch und theoretisch weit gespannten Horizont des Faches wie in der vergleichsweise hohen studentischen Mobilität im Rahmen von Studienortwechseln oder Erasmus-Programmen.

 

Wenn gerade Studienanfänger_innen am Sonntag zum Frühstück oder Kaffee bei ihrer Familie sind kommt ja ganz oft die Frage: „Was studierst du da? Was ist das überhaupt?“. Haben Sie darauf eine Patentantwort?

In der Wissenschaft funktionieren Patentantworten bekanntlich ja immer so gut wie falsch. Wenn man sagt: „Ich studiere Mathematik“, dann denken alle: „Aha, also Zahlen“. Wer sich jedoch tatsächlich mit Mathematik beschäftigt, weiß, dass Zahlen dort nur der kleinste Teil sind. Also: Ich neige dazu, solche Patentantworten eher umzudrehen. Das heißt: Wenn mich jemand nach der Ethnologie fragt, sage ich, dass wir zwar nicht unbekannte Gruppen und Stämme am Amazonas und in Afrika untersuchen, aber doch in gewisser Weise in Berlin oder in Oberammergau. Damit will ich an populäre Bilder über die Ethnologie anknüpfen, sie aber gleich ein wenig irritieren. Und tatsächlich geht es bei uns ja immer wieder darum herauszufinden, welche Bilder wir von uns selbst und von anderen machen, wie wir mit solchen Bildern dann innerhalb von Beziehungen oder Gruppen, von Regionen oder Nationen umgehen, nach welchen Regeln und Logiken wir daraus eine Art „Verkehrsordnung“ unseres Lebens machen. Diese subjektiven Ordnungen und Logiken sind manchmal nicht weniger geheimnisvoll und exotisch als die am Amazonas.

Ich weiß nicht, ob diese Antwort für das Frühstück nicht vielleicht schon zu lang wäre. Deshalb würde ich dann zu einer Kaffeepause raten, um danach vielleicht an einem konkreten Beispiel zu erzählen, was wir tun, wie wir etwas erforschen und wie wir mit den Ergebnissen umgehen. Und dass – wenn alles gut geht – eben am Ende nicht nur rauskommt, wie Emma und Otto ihr Leben organisieren, sondern dass wir daraus exemplarische Erkenntnisse für ganze Gruppen und Gesellschaften gewinnen können.

 

Wie setzt das Institut die Umstellung zu Bachelor- und Masterstudiengängen um?

Das wichtigste für uns war zunächst, die darin enthaltenen starken Tendenzen zur Verschulung des Studiums durch inhaltliche und flexible Angebote abzuschwächen. Uns ging und geht es darum, dass hinter dem schematischen Gerüst von Modulen, Workloads und Punkten nicht die Inhalte verloren gehen und dass vor allem jedes seine eigenen Interessen und Vorstellungen auch weiterhin ins Studium miteinbringen kann. Wenn es gut geht, wird auch das BA- und MA-Studium also mit einer wirklich individuellen Handschrift gestaltet und abgeschlossen. Und wir wollen eben auch umgekehrt die Reduktion der Studierendenzahlen durch das neue Studiensystem dazu nutzen, den einzelnen Studierenden mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen, als das früher möglich war. Und ich denke, das bekommen wir gerade auch mit Hilfe unserer studentischen TutorInnen und MitarbeiterInnen ganz gut hin.

 

Können Sie sich an besonders schöne Momente am Institut erinnern, seit Sie hier sind?

Es gab viele tolle Situationen: in Seminardebatten, mit Gästen, im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Das ist für die inhaltliche und wissenschaftliche Arbeit ja auch ganz besonders wichtig. Ebenso wichtig ist aber natürlich auch das Institutsleben als „soziale Einrichtung“. Da ist es natürlich auch die lange Kette von Bekanntschaften und Freundschaften, die sich während des Studiums ergeben, von Kontakten auch über den Studienabschluss hinaus und dabei eben vor allem das Gefühl, dass wir zum Beispiel auf unseren Sommerfesten eben nicht nur gut ausgebildete Leute verabschieden, sondern auch wirklich gute und vielleicht oft sogar auch „glückliche“ Leute. Glücklich in den Sinne, dass sie wissen, was sie können und wollen, dass sie in der Lage sind, links und rechts von ihrem Weg zu schauen, dass sie vielleicht nicht nur an künftige Gehaltskonten denken, sondern an in vielfacher Hinsicht selbstbestimmte und selbstverantwortete Arbeit. Natürlich sind sie dann vielleicht auch glücklich, weil sie hier endlich vom Institut wegkommen. Aber da viele von ihnen zurückkommen und den Kontakt halten, war ihr Studium wohl doch nicht ganz so grässlich.

Schöne Erinnerungen sind es aber durchaus auch, wenn man in der Institutsarbeit das Gefühl bekommt, dass hier nicht nur berufliche, sondern auch persönliche Probleme ihren Platz haben können. Wenn Leute in die Sprechstunde kommen und nicht nur nach dem Referat fragen, sondern offenbar auch das Gefühl haben, über private Dinge reden zu können: Beziehungen, Kinder, Geld, Ängste. Das sind für mich auch ganz wichtige Erfahrungen und Situationen, weil ich daran merke, dass unser Institut eben doch ein bisschen mehr ist als nur eine akademische Service-Einrichtung. Und das ist ja auch unser wissenschaftlicher wie politischer Anspruch.