Standort und Geschichte
Großstädte wie Berlin sind ganz besondere Räume, in denen sich gesellschaftliche Prozesse und kulturelle Entwicklungen verdichten. Für Ethnolog_innen verkörpern sie damit fast ein Labor, weil sie zugleich Ort des Lebens und Raum des Forschens und Arbeitens sein können. Viele Themen und Fragestellungen, mit denen wir uns wissenschaftlich beschäftigen, sind zugleich Teil unseres urbanen Alltags. Berlin ist damit ein ungemein spannender und inspirierender Alltagsort. Es ist aber auch ein ungewöhnlicher Wissenschaftsort, weil es über eine vielfältige, gut ausgebaute und unkompliziert nutzbare wissenschaftliche Infrastruktur verfügt, zu der neben den vier Universitäten auch zahlreiche Bibliotheken, Archive, Museen und andere Kulturinstitutionen zählen.
Unser Institut, in der historischen Mitte Berlins, ist für Studierende wie Forschende ein anregender Ort. Hinter dem Säulenvorbau der Mohrenkolonnaden, gebaut vom Architekten des Brandenburger Tores, herrscht nicht nur ein reger Lehrbetrieb. Vielmehr arbeitet das Institut auch wie ein Forschungsatelier. Studierende und Lehrende, Promovierende und Gastwissenschaftler_innen forschen gemeinsam in der Stadt, veranstalten Kolloquien und Tagungen, realisieren Ausstellungen und Bücher. Damit können Studierende wie Promovierende ihre eigenen Wissenskompetenzen und Forschungsprofile mitbestimmen – und darauf legen wir besonderen Wert.
1936 wurde an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität der erste rein volkskundliche Lehrstuhl in Deutschland eingerichtet und mit Adolf Spamer besetzt. Zwar bestand in dieser Zeit prinzipiell ein Konsens zwischen der auch von Spamer vertretenen konservativen volkskundlichen Kultur- und Gesellschaftsauffassung und der nationalsozialistischen Ideologie, jedoch lieferte die Arbeit des Instituts jedenfalls nicht nur erwünschte Ergebnisse. Die Förderung durch die Machthaber blieb zurückhaltend. Ab 1942 war der Lehrstuhl durch eine langwierige Erkrankung Adolf Spamers mehr oder weniger vakant, und mit dem Kriegsende kam es zur Auflösung des Seminars für Volkskunde.
Wesentlich später als an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wo unter Adolf Spamer bereits 1947 eine Volkskundliche Kommission gegründet wurde, erfolgte die Wiederbegründung der Volkskunde im universitären Bereich. Erst 1952 wurde an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität das Institut für Völkerkunde unter Sigrid Westphal-Hellbusch eingerichtet, das 1953 in Institut für Völkerkunde und deutsche Volkskunde umbenannt wurde. In der Folgezeit hatten verschiedene Volks- und Völkerkundler den Universitätslehrstuhl inne, was zu einer engeren Verflechtung beider Disziplinen führte. 1968 wurde das Institut im Zuge der 3. Hochschulreform in Bereich Ethnographie umbenannt und der Sektion Geschichte angegliedert. Eine stärker historisch untermauerte Ausbildung und Forschung in Zusammenarbeit mit dem Akademieinstitut war die Folge.
Ab 1970 war Wolfgang Jacobeit Honorarprofessor und seit 1980 ordentlicher Professor am Bereich Ethnographie. Seit dieser Zeit war die Lehr- und Forschungseinrichtung maßgeblich an der theoretischen Ausarbeitung des sogenannten Kultur- und Lebensweisemodells beteiligt, auf dessen Basis Probleme historischer, besonders aber auch zeitgenössischer Alltagskulturen auch empirisch mehr in den Blick kamen. So bestimmten in den achtziger Jahren gegenwartsnah orientierte Themen zunehmend die universitäre Lehre und Forschung. Wolfgang Jacobeit vor allem sorgte auch dafür, daß die Volkskunde sich bis in die studentische Ausbildung hinein nicht isolierte, sondern am Austausch mit Konzepten einer progressiven Kultur- und Sozialforschung teilnahm. Besonders enge Kontakte bestanden diesbezüglich zum Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft. Diese Ausrichtung wurde auch von Ute Mohrmann begleitet, nachdem sie den Lehrstuhl ab 1986 übernommen hatte.
In den Jahren nach der Auflösung der DDR seit 1989 kam es zu tiefgreifenden Veränderungen in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft. Im Auftrag der 1990 gegründeten Struktur- und Berufungskommission leitete Ute Mohrmann den positiv evaluierten Bereich Ethnographie bis zur Besetzung des C-4-Lehrstuhls durch Wolfgang Kaschuba, der 1992 berufen wurde. 1993, mit der Verabschiedung einer Magisterprüfungsordnung für das Fach, mit der Berufung von Rolf Lindner und Werner Schiffauer (gefolgt 1996 von Peter Niedermüller) auf weitere Professuren sowie mit der Gründung eines eigenständigen Instituts für Europäische Ethnologie (1994) wurde der Neubeginn der Disziplin in Berlin unter der genannten Fachbezeichnung abgeschlossen.