Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Kristine Wolf

Umkämpfte Grenzen des “Einwanderungslandes Europa”: Eine Ethnografie der politischen Bündnisse, Imaginationen und Wissenspraktiken migrantischer Bewegungen zwischen Rabat (Marokko) und Murcia (Spanien)

Betreuung: Prof. Dr. Regina Römhild

Förderung: Elsa-Neumann-Stipendium

 

Abstract

Mein Dissertationsprojekt untersucht aus der Perspektive einer reflexiven Europäischen Ethnologie und Kulturanthropologie die verändernden Wirkungen postkolonialer Migration und transnationaler Mobilitäten an konkreten Schauplätzen im längst von globalen Einflüssen geprägten Lokalen ermergenter, „super-vielfältiger“ (Vertovec) Einwanderungsgesellschaften. An Europas Außengrenzen und in seinen „borderlands“ manifestieren sich täglich vielfältige kollektive und individuelle Auseinandersetzungen von Migrant/innen aus dem globalen Süden und Osten mit den kalkuliert selektiven bis tödlichen EU-europäischen Grenzmechanismen.

Mein Forschungsfeld, der euromediterran-afrikanische Grenz-, Wissens- und Migrationsraum und dessen Akteur/innen-Assamblagen in ausgesuchten sozialen Kontexten des aktuellen Migrationsgeschehens zwischen Nordmarokko (Rabat) und dem von Finanz- und Schuldenkrisen-Effekten stark betroffenen Südspanien (Murcia), konzipiere ich dabei zugleich als multiskalares, umkämpftes (Macht-)Feld und als paradigmatisches Zentrum und Experimentierfeld neuer politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen (Römhild).

Das hier (vor-)herrschende Ordnungssystem des EU-europäischen Migrations- und Grenzregimes kann insbesondere vor dem Hintergrund einer fortwirkenden Verflechtungsgeschichte (Conrad/Randeria) als hegemoniales Projekt identifiziert werden. Sein übergeordnetes Interesse, die vermeintlich „fremden Anderen“ migrantischer Bewegungen mithilfe einer Regierungslogik des „Migrationsmanagements“ zu systematisieren, zu ordnen und zu kontrollieren, stellt einen neokolonialen Konsens kapitalistischer Verwertungsstrategien her.

Postkoloniale transnationale Migrationsbewegungen fordern dieses „neue System der Apartheid“ (Balibar), seine Widersprüche und Spannungen in vielfältigen lokalen Aushandlungen, flexiblen und taktisch-geschickten Manövern und kollektiven Kämpfen an den Rändern EU-Europas täglich neu heraus, unterwandern es situativ, überwinden und transformieren es.

Meine ethnographische Analyse fokussiert insbesondere drei unterschiedliche Formen solidarischer Allianzen und kollaborativer Bündnisse, migrantischer Selbstorganisation und produktiver Vernetzungen zwischen sogenannten einheimischen Staatsbürger/innen und Migrant/innen in den mehr oder weniger (un-)sichtbaren Auseinandersetzungen um Anerkennung ihrer fundamentalen sozialen und demokratischen (Bürger-)Rechte: die allererste migrantische Gewerkschaftssektion Afrikas, ODT-I; das zivilgesellschaftliche Bündnisses „Coordination Papiers Pour Tous“ in Rabat und die Murcianische Gruppe des inzwischen zur sozialen Bewegung entwickelten landesweiten Zusammenschluss' PAH („Plataforma de Afectados por la Hipoteca“/ Plattform Hypothekenbetroffener).

Dazu wird mittels einer konsequent reflexiven Mappingstrategie eine Kartographie zu den Akteur/innen-Assamblagen erstellt, die an der lokalen Konstellation der komplexen Verflechtungen zwischen EU-Grenzregime, (informeller) Ökonomie und migrantischen Bewegungen partizipieren. Dies ermöglicht, die darin eingebetteten Machtverhältnisse, dynamischen Aushandlungsprozesse von Konflikten um „Migration“ als auch involvierte hegemonische und minoritäre Diskurse ethnographisch zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage werden die dabei zirkulierenden, als „soziale“ und „praktizierte“ Imaginationen (Appadurai/ Römhild) gefassten, Vorstellungen zu Mobilitätsprojekten und das (Nicht-)Wissen der Migration sowie dabei wirkmächtige soziale Praktiken eines zunehmend kosmopolitisierten (Beck/Synaider u.a.), in jedem Sinne Grenzen suspendierenden, Alltags einer kritischen Analyse, dichten Beschreibung und verstehenden Interpretation unterzogen.

 

Bibliographie (Auszug)

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Schlüsselbegriffe

Ethnografische Migrations- und Grenzregimeanalyse, postkoloniale transnationale Migrationsbewegungen, borderland, kosmopolitische Alltagspraxen, Perspektive und Wissen der Migration, Hegemonietheorie, kritische und postkoloniale Theorie

 

Curriculum Vitae

geboren 1980 in Berlin-Ost, Magisterabschluss der Europäischen Ethnologie und Französischen Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2010 Doktorandin am IfEE; Feldforschung von 10/2012 – 10/2013 in Rabat (Marokko) und Murcia (Spanien).

 

Kontakt

E-Mail: wolf.kristine@gmail.com

Academia-Profil: hu-berlin.academia.edu/KristineWolf