Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Volkskunde in der Metropole I

Zur Entstehung eines volkskundlichen Wissensmilieus und zur Produktion kultureller Wissensformate
Förderlaufzeit: 08/2006 – 07/2008
Förderinstitution: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

 

In der Wissen(schaft)sforschung sind, vor allem in der Auseinandersetzung mit Globalisierungsdebatten und einer vielfach konstatierten „Renaissance des Regionalen“, verschiedentlich auch mögliche Raumbezüge von Wissen thematisiert worden. Mit Blick auf solche Einbindungen wissenschaftlicher Wissensproduktion hat sich das Projekt in einer wissensgeschichtlichen Perspektive mit den komplexen Wechselbeziehungen und Wirkungsverhältnissen von (regional umrissenem) Raum, Wissen und sozialen Akteuren beschäftigt. Dies am Beispiel der Volkskunde zu tun war vor allem auch deshalb nahe liegend, weil für volkskundliches Wissen eine starke lokale Einbindung mit regionaler Perspektive stets charakteristisch war. Es besaß in aller Regel spezifische regionale Wissensanteile, landschaftliche Bezüge und regionale Träger, die nicht beliebig transformierbar und generalisierbar waren und sind. Berlin als exemplarischer Ort volkskundlicher Wissensproduktion war dabei auch deshalb von besonderem historischen Interesse, weil hier einerseits die Institutionalisierung wie Akademisierung der Volkskunde längst vor 1900 in Gang gesetzt wurde, andererseits aber die Großstadt selbst als Forschungsfeld erst nach 1945 „entdeckt“ wurde.

Das Projekt hat sich diesem Thema mit einem zeitlichen Schwerpunkt um 1900 in zwei Fallstudien genähert: aus der Perspektive einer Institution – der „Brandenburgia“, Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin – und aus der Perspektive verschiedener Volkskunstausstellungen in Berlin. Analysiert wurden vor allem Druckerzeugnisse wie Vereinszeitschriften und Tagespresse sowie verschiedene Archivmaterialien. Mit dem Begriff des „Wissensmilieus“ wurden Kommunikationszusammenhänge und Wissenskulturen konzeptuell gefasst, die sich um 1900 mit Blick auf „Volkskunde“ verdichteten und zuneh-mend institutionalisierten und die sowohl wissenschaftlich wie nicht wissenschaftlich arbeitende Akteure umfassten.

In ihrer Berliner Spezifik zeichneten sich diese Kommunikationsstrukturen vor allem durch stärkere soziale Heterogenität aus als bisher angenommen, durch thematische Offenheit und Integrationsfähigkeit sowie durch eine relative Personengebun-denheit volkskundlichen Wissens. Feststellbar sind damit unterschiedliche Grade der öffent-lichen Teilnahme an Wissensproduktion und Wissenstransfer. Die Volkskunstausstellungen wurden mit dem Begriff des „Wissensformats“ als Ordnungen spezifischer Wissensbestände analysiert, die etwa die sinnlich-ästhetischen Dimensionen volkskundlichen Wissens zur Geltung brachten und damit die öffentliche Wahrnehmung „von Volkskunde“ nachhaltig prägten. Die Großstadt als Ausstellungskontext strukturierte dabei die öffentliche Rezeption der Objekte ebenso mit wie der Veranstaltungsort, etwa das Warenhaus Wertheim (1909 und 1932). Mit Blick auf ein sozial heterogenes Publikum und auf eine breite Rezeption in der Berliner und der überregionalen Presse waren sie dabei ein wichtiges Transferformat mit hohem Aufmerksamkeitswert in Berlin. Diese als „Wissenstransfer“ untersuchten Austauschverhältnisse zwischen Wissenschaft und (Stadt-)Öffentlichkeit erwiesen sich vor allem dort als besonders effektiv, wo nicht wissenschaftlich Akteure maßgeblich an der Formatierung volkskundlichen Wissens beteiligt waren. Diese Akteure stellten für die sich herausbildende Wissenschaft Volkskunde um 1900 wichtige Verbündete dar, weil sie den Transfer volkskundlichen Wissens in andere gesellschaftliche, vor allem auch großbürgerliche Bereiche stützten und gestalteten und weil sie volkskundliches Wissen für eine breitere Öffentlichkeit ebenso wie für neue gesellschaftliche Gruppen plausibel und anschlussfähig machten. Mit Blick auf gesellschaftliche und/oder politische Verwertungsinteressen lassen sich hier zudem signifikante Schnittstellen des Wissensmilieus mit anderen gesellschaftlichen Bereichen vermuten.

Die drei hier vertiefend erprobten und wissensgeschichtlich weiterentwickelten Begriffe – Wissenstransfer, Wissensformat, Wissensmilieu – bilden zugleich einen Beitrag zur  Weiterentwicklung der kultur- und sozialanthropologisch geprägten Wissen(schaft)sforschung.

Das Projekt arbeitete im Rahmen des Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: Zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“.

 

Kooperationen

Zum Forschungsverbund: Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert gehörten während der Projektlaufzeit:

  • Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Frankfurt/M. (Prof. Gisela Welz): „Die Ortsmonographie als Wissensformat. Am Beispiel der Gemeindeforschung im 20. Jahrhundert“. Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Dr. Antonia Davidovic-Walther
  • Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Göttingen (Prof. Regina Bendix): „Enzyklopädie als Wissensformat. Das Beispiel der volkskundlichen Erzählforschung“. Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Dr. Michaela Fenske
  • Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Kiel (Prof. Silke Göttsch): „Volkskunde als „Heimatwissenschaft“: Region und Ethnos. Das Beispiel Schleswig-Holstein 1920-1940“. Wissenschaftliche MitarbeiterInnen: Jenni Boie, M.A., Carsten Drieschner, M.A., Nina Jebsen, M.A.
  • Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Tübingen (Prof. Bernhard Tschofen): „Konstituierung von Region als Wissensraum. Der Beitrag von Volkskunde und Sprachforschung in Württemberg (1890-1930)“. Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Dr. Lioba Keller-Drescher

 

Vorträge

05.12.2006: Sabine Imeri/Franka Schneider, Vortrag im Institutskolloquium des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin: Einführung in die Thematik des Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen“.

17.03.2007: Wolfgang Kaschuba, Vortrag im Institutskolloquium des Instituts für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie Göttingen: Volkskundliches Wissen: Konzeptuelle Überlegungen.

10.05.2007: Sabine Imeri/Franka Schneider/Leonore Scholze-Irrlitz, Vortrag im Verein der Freunde des Museums Europäischer Kulturen Berlin: „Volkskundliches Wissen“: Ein Forschungsprojekt.

25.09.2007: gemeinsamer Auftritt mit Kolleg/innen des Forschungsverbundes, Vortrag auf dem  36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 2007 in Mainz: Bilder, Bücher, Bytes“: Beiträge zur Medialität volkskundlichen Wissens. Vorstellung des Forschungs-verbundes „Volkskundliches Wissen“.

 29.09.2007: Sabine Imeri/Franka Schneider, Vortrag auf der 90. Jahrestagung der Deut-schen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 2007 in Wuppertal „Praxis der Theorie“: „Handgreifliche Volkskunde“: Zwischen Reliktforschung und aktiver Traditionspflege.

24.11.2007: Sabine Imeri, Vortrag im Rahmen des Workshops „Vom Nutzen der Wissen-schaft“ des DFG-Schwerpunktprogramms 1143 „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert. Personen, Institutionen, Diskurse“ in München: Zwischen alltagsweltlicher Adaption und politischer Umsetzung: Überlegungen zu Konzepten von Angewandtheit in der Volkskunde der 1920er und 1930er Jahre.

06.07.2008: Sabine Imeri/Franka Schneider, Vortrag im Institutskolloquium des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin: Volkskunde als Todansager oder „Retten“ und „Wiederbeleben“ als Wissenspraktiken um 1900.  

13.11.2008: Sabine Imeri/Franka Schneider, Vortrag im Verein der Freunde des Museums Europäischer Kulturen Berlin: Volkskundliche Arbeit in Berlin um 1900. Akteure und Praktiken.

 

Publikationen

 

Gemeinsame Publikationen/Herausgeberschaften
  • DFG-Forschungsverbund: zum Start des DFG-Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“, in: dgv-Informationen H. 4, 2006, S. 8-10.
  • Die Erfindung der Region. Fleißige Schwaben und bayerische Lederhosen: Die Europäische Ethnologie untersucht, wie die Wissenschaft regionale Traditionen erhält, in: forschung Spezial Geisteswissenschaften. Das Magazin der deutschen Forschungsgemeinschaft 2007, S. 41-43.
  • Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009.
  • Jenni Boie, Antonia Davidovic-Walther, Carsten Drieschner, Michaela Fenske, Silke Göttsch, Sabine Imeri, Wolfgang Kaschuba, Lioba Keller-Drescher, Franka Schneider: Volkskundli-ches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer. Zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert, in: Thomas Hengartner/Michael Simon (Hg.): Bilder, Bücher, Bytes. Zur Medialität des Alltags. 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, 23.-26. September in Mainz. Mainz 2009.
  • Sabine Imeri/ Wolfgang Kaschuba/ Michi Knecht/ Franka Schneider/ Leonore Scholze-Irrlitz: Volks- und Völkerkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin bis 1945, in: 1810-2010 – 200 Jahre Universität unter den Linden, Geschichte der Universität zu Berlin, hrsg. von Rüdiger vom Bruch und Heinz-Elmar Tenorth (erscheint 2010).
  • Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz: Von der Ethnographie zur Europäischen Ethnologie. Volks- und Völkerkunde nach 1945 in der SBZ / DDR. Erscheint 2010: in Geschichte der Humboldt-Universität zum 200-jährigen Jubiläum 2010, hrsg. von Rüdiger vom Bruch und Heinz-Elmar Tenorth.

 

Aufsätze
  • Sabine Imeri: Sozialkitt, Beheimatung und Mitmach-Wissen. Überlegung zur Verwendbarkeit volkskundlichen Wissens im Kontext der Preußischen Schulreformen 1924/25, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S. 87-111.
  • Sabine Imeri: Heimatforschen in der Metropole oder wie regionales Wissen entsteht. Die Brandenburgia, Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg um 1900, in: Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge. Heft 1, 2009, S. 113-138.
  • Sabine Imeri: Zwischen Selbstverständnis und Legitimationsstrategie. Überlegungen zu Verwendungskonzepten volkskundlichen Wissens bis 1933, in: Christine Pieper/ Frank Uekötter (Hg.): Vom Nutzen der Wisenschaft. Beiträge zu einer prekären Beziehung, Stuttgart 2010, S. 15-39.
  • Wolfgang Kaschuba (Hg.): Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Geschichte und Gesellschaft 34, 2008)
  • Wolfgang Kaschuba: Ernst Moritz Arndt: (M)ein Volksfreund?, in: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Volksfreunde. Historische Varianten sozialen Engagements. Ein Symposium, Tübingen 2007, S. 33-41.
  • Wolfgang Kaschuba: Cultural Heritage in Europe. Ethnologists’ Uses of the Authentic, in: Anthropological Journal of European Cultures, vol. 17, 2008, S. 34-46.
  • Franka Schneider: Städtische Arenen volkskundlicher Wissensarbeit. Die Internationale Volkskunstausstellung 1909 im Berliner Warenhaus Wertheim, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S. 54-86.
  • Franka Schneider: Marie von Bunsen, die „wissende Reisende“. Erkundungen zum volks-kundlichen Wissensmilieu in Berlin, in: Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge. Heft 1, 2009, S. 87-112.
  • Leonore Scholze-Irrlitz: Feldforschung in der Mark Brandenburg. Volkskundliche Wissensproduktion in en 1930er Jahren in Berlin, in: Ina Dietzsch/ Wolfgang Kaschuba/ Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u.a. 2009, S.112-130.