Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Umbruchsgesellschaften

Informalität, Vertrauen und Misstrauen in Umbruchsgesellschaften
Förderlaufzeit: 09/2007 – 06/2010
Förderinstitution: Bundesministerium für Bildung und Forschung

 

Umbruchsprozesse sind gekennzeichnet durch Situationen des Ausprobierens statt des Wissens, die mehr Übergang als Ankommen bedeuten und die das alltägliche Leben damit immer komplexer und ungewisser erscheinen lassen. Dieses Teilprojekt fragt danach, wie Menschen vertrauen, wenn ihre Lebenswirklichkeit zunehmend durch Unsicherheit gekennzeichnet ist. Mit welchen informellen Praxen wird dem Schwinden alltäglicher Gewissheiten und dem Mangel an gesichertem Wissen begegnet?

Die zu beobachtenden, tief greifenden Veränderungen in Europa sind in hohem Maße durch globale ökonomische Neuordnungen bestimmt. Doch nicht nur die Figurationen und Räume, auch die Formen von Arbeit wandeln sich. Informalisierung wird dabei als globaler Trend beschrieben, ein Prozess der in Mittel-Europa im Schwinden des arbeits- und sozialrechtlich regulierten Normalarbeitsverhältnisses seinen Ausdruck findet. Damit verändern sich aber auch Lebens- und Denkweisen, werden neue Formen gesellschaftlicher Unsicherheit und Prekarität erfahrbar. Unsere Forschung beschäftigt sich damit, welchen Strategien und Logiken das ökonomische Handeln von Kleinunternehmerinnen und -unternehmern angesichts eines unsicheren und bedrängten Marktes folgt. Uns interessiert nicht Informalität im Sinne von Schattenwirtschaft, sondern Informalisierung als eine Form der Globalisierung von Unsicherheit.

Vertrauen bezieht sich per se auf unsichere Ergebnisse und ist immer auch ein Wechsel auf die Zukunft – funktioniert dieser auch, wenn die Zukunft zunehmend unkalkulierbar wird? In engeren Beziehungsnetzen wird die Einlösung dieses Wechsels durch die Einforderung von Reziprozitätsregeln sichergestellt – was aber geschieht, wenn diese engen Beziehungsnetze ausdünnen? Vertrauensvolle Beziehungen sind die Basis der sozialen Reproduktion informellen Austauschs – was bedeutet es für die Rolle von Informalität, wenn Netzwerke in schrumpfenden Regionen von Perforation bedroht sind? Jedes funktionierende Sozialgefüge verfügt über einen bestimmten Grad an Informalität, die Prozesse von Vertrauen und Misstrauen unterstützt beziehungsweise aushöhlt – wie gestaltet sich deren Verhältnis in einer Situation gesellschaftlichen Umbruchs?

Dieses Projekt ist eingebettet in den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbund „’Social Capital’ im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“ (Kooperationspartner s.u.). Gemeinsam untersucht dieser Forschungs- und Kommunikationsverbund, unter welchen Voraussetzungen prekäre Umbruchs- und Überlebensfigurationen zur Entfaltung sozialer „Kreativität“ führen und eine Neubildung und Reorganisation von sozialem Kapital über unterschiedliche kulturelle Strategien in Gang setzen.

Fünf Schlüsselbegriffe sollen dabei als eine Art Raster das Untersuchungsprogramm des Gesamtverbundes leiten: Wie kann Vertrauen hergestellt werden, wo Misstrauen angebracht wäre? Wie kann individuell Unsicherheit bearbeitet werden, wo Sicherheit gesellschaftlich nicht mehr gewährleistet scheint? Wenn Menschen sich unter Umbruchskonstellationen neu erfinden müssen, wie organisieren sie beispielsweise ihre Familien, wenn deren Mitglieder nicht selten arbeitsbedingt über ganz Europa verstreut leben? Welche charismatischen Figuren gehen als Akteure in Umbruchprozessen voran und in welchen Typen von Gemeinschaften kann der Ausbruch in Neues gewagt werden?

In enger Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater Berlin soll die interdisziplinäre Laborsituation sichtbar gemacht und in einen gesellschaftlichen Dialog überführt werden.

 

Berichte über den Projektverbund in der Onlineversion des ZEITmagazins

 

Kooperationen

  • Teilprojekt 1: „Bonding oder Bridging. Familiäre Netzwerke in Überlebensgesellschaften“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel (Prof. Dr. Heinz Bude, Dr. Jörg Dürrschmidt)
  • Teilprojekt 2: „Ambivalente Gemeinschaftsbildungen. Formen sozialen Kapitals in prekären regionalen Räumen“ am Brandenburg-Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS e.V.) (Dr. Michael Thomas, Dr. Rudolf Woderich)
  • Teilprojekt 4: „Charisma und Miseria. Die Gründung des Sozialen in Überlebensgesellschaften“ im Arbeitsbereich „Gesellschaft der Bundesrepublik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung (Prof. Dr. Heinz Bude)
  • Teilprojekt 5: „Strategien alltäglicher Überlebenssicherung“ am Thünen-Institut Bollewick (Dr. Rainer Land, Andreas Willisch)
  • SFB-Projekt „Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Generationenumbruch. Beteiligungschancen und Deutungssysteme ausgewählter Basiseliten“ im Sonderforschungsbereich 580, „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“, Friedrich-Schiller-Universität Jena (Prof. Dr. em. Lutz Niethammer; Dr. Tanja Bürgel)
  • DFG-Projekt „Transnationale Familiarität“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft, Phillips-Universität Marburg (Prof. Dr. Ina Merkel, Dr. Karen Körber)
  • Projekt „Sozialität und Rhetorik in der Interpretation von Situationen: eine anthropologische Theorie und ihre Konfrontation mit dem Fall Ostdeutschland“ am Department of Anthropology University Durham (Prof. Michael Carrithers)
  • Schauspielschule Ernst Busch (Prof. Dr. Wolfgang Engler)
  • Maxim Gorki Theater Berlin

 

Publikationen

  • Dietzsch, Ina/ Scholl, Dominik: Slow Economy. Langsame Ökonomie und Politiken der Reichweite. In: Heinz Bude, Thomas Medicus und Andreas Willisch (Hg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg 2011, S. 179–186.
  • Dietzsch, Ina: Öffentliche Wissenschaft. In: Heinz Bude, Thomas Medicus und Andreas Willisch (Hg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg 2011 S. 198–206.
  • Scholl, Dominik: Auflösung. In: Heinz Bude, Thomas Medicus und Andreas Willisch (Hg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg 2011 S. 330–335.
  • Scholl, Dominik: Mobilität und Beharrung. Informalisierte Arbeitsarrangements gestalten. In: Reinhard Johler, Max Matter und Sabine Zinn-Thomas (Hg.): Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. Münster u.a. 2011, S. 143–150.
  • Dietzsch, Ina/ Scholl, Dominik: Mittelstadt als Stadt dazwischen. In: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole. Frankfurt/M. 2010, S. 173–187.
  • Dietzsch, Ina Perceptions of Decline: Crisis, Shrinking and Disappearance as Narrative Schemas to Describe Social and Cultural Change. In: Annual Yearbook, Inst. de Ist. „G. Bariţ” din Cluj-Napoca, Series Humanistica, tom. 1 VII, 2009, p. 147–176 und in Vorbereitung als Online-Publikation in: The Online Durham Anthropology Journal 2009.
  • Dietzsch, Ina: Crisis. A Narrative Schema and its Rhetorical Realisation (eingereicht bei Social Anthropology)

 

Vorträge

  • Ina Dietzsch
    • Surviving after Transition: The Rhetorics of Decline, Crisis, Shrinking and Disappearance,  Conference paper “1989-2009. The East European Revolutions in Perspective”, Debatte and Brunel University, London, 18.10.2009
    • Lebenswelten der Entschleunigung und Stadtöffentlichkeit im Abwanderungsdilemma, Vortrag und Panel auf dem Kongress der DGV in Freiburg, am 28.09.2009
    • Who are the experts?  Artists, politicians, academics, and local journalists in competition over definitions in a shrinking German city', Vortrag Workshop ‘Indigenous Studies and Engaged Anthropology: Opening a Dialogue’ am Dept. of Anthropoloy, University Durham, 15.09.2009
    • Über_Leben zwischen Metropolen, Beitrag auf der Konferenz ‘Mittelstadt – urbanes Leben jenseits von Metropolen’ ( zusammen mit Dominik Scholl), Georg-August-Universität Göttingen, 2.4.2009 
    • Das ethnografische Feldtagebuch. Überlegungen zur methodischen Herausforderung einer kollektiven ethnografischen Forschung. Vortrag auf dem Methoden-Workshop des Verbundes „’Social Capital’ im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“, in Wittenberge am 24.1.2008
  • Dominik Scholl
    • Fragile Freiheit. Informalisiertes Wirtschaften zwischen Autonomie und Einsamkeit, Tagung „Über Leben im Umbruch. Familienentwürfe, Alltagsstrategien und ambivalente Gemeinschaften“ des Projektverbunds „’Social Capital’ im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“ in Wittenberge, 2.10.2009
    • Mobilität und Beharrung. Informalisierte Arbeitsarrangements gestalten, DGV-Kongress „Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung“ in Freiburg, 28.9.2009
    • Über_Leben zwischen Metropolen (gemeinsam mit Ina Dietzsch), Tagung „Mittelstadt – Urbanes Leben jenseits der Metropole“ am Institut für  Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie Göttingen, 2.4.2009
    • Unternehmerisches Selbst Vertrauen, Tagung „Über Leben im Umbruch. Wissenschaftliche Perspektiven“ des Projektverbunds „’Social Capital’ im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen“ in Wittenberge, 05.07.2008
    • Vom Schwinden alltäglicher Gewissheiten, Kolloquium „Über das Verschwinden: Zeitdiagnosen, Ordnungen und kreatives Moment“ am Institut für Europäische Ethnologie Berlin, 24.6.2008