Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Forschung/Research

Die Ästhetisierung des "Volkes" 1800. Kulturelle Formen, Semantiken und Repräsentationssysteme in einem europäischen Verflechtungsraum

Das Forschungsprojekt untersucht in einer interdisziplinären und transkulturellen Perspektive die Inhalte und die Formen der Repräsentation der unteren und/oder ländlichen Sozialschichten um 1800 in ihren soziokulturellen Rahmenbedingungen.

Viele Regionen jenes unbestimmten Raumes, den wir heute Europa nennen, erlebten im Zeitraum zwischen 1780 und 1830 fundamentale Transformationen in sozialer, technologischer, politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht. Dieser Wandel bewirkte eine veränderte Sicht auf die gesellschaftliche Rolle der unteren Schichten und eine zunehmende Ästhetisierung ihrer Lebensformen. Diese (überwiegend bürgerliche) Perspektive unterschied sich deutlich von aufgeklärten Gesellschaftsideen, welche die unteren Schichten primär als rechtliche Größe in einem gesellschaftlichen Kontrakt aufgefasst hatten. Ziel des Forschungsvorhabens ist, dieses kulturhistorische Phänomen einer neuartigen gesellschaftlichen Selbstbeobachtung aufzuarbeiten und damit auch einen Beitrag zu einer interdisziplinären und transnationalen oder transkulturellen Forschungsperspektive in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu leisten. Dementsprechend sollen fachliche, genrebezogene und geographische Grenzziehungen aufgebrochen und intensive Quellenanalysen mit umfassenden Kontextuntersuchungen kombiniert werden, um die neuen Ideen vom "Volk" in ihrer weiträumigen Durchschlagkraft, ihrer semantischen und medialen Ausgestaltung sowie in ihren gesellschaftlichen und institutionellen Kontinuitäten zu beleuchten.

Zur Erschließung des breiten Untersuchungsfeldes werden unterschiedliche epistemische Zugänge konstruiert. Ein Fokus soll auf den Inhalten liegen, mit welchen die Neubewertung der unteren Schichten verbunden war, sei es im Sinne antirationalistischer Gesellschaftskritik, für nationalstaatliche oder regionalistische Forderungen, zur spirituellen Erneuerung der Künste, zum kulturellen Vergnügen eines erstarkenden Bürgertums oder zur Restauration feudaler Gesellschafts- und Werteordnungen. Ein zweiter Zugang untersucht dominante mediale (und bürgerliche) Systeme der Repräsentation in ihren transnationalen Verflechtungen, wie den wachsenden Zeitungsmarkt, die Kunstlieder oder die Sammlungen von Balladen und Märchen, während ein dritter Fokus sich auf die Imaginationen und das Erleben spezifischer Räume richtet, die angesichts ihrer peripheren Lage als Enklaven eines von der Zivilisation weitgehend unberührten Lebens galten, wo ein vermeintlich authentisches und reines Volksleben bewahrt wurde. Eine vierte Perspektive zielt darauf, die Kontinuitäten der im Untersuchungszeitraum kristallisierten Konzeptionen von Volk, Volkstümlichkeit und Authentizität herauszuarbeiten, die bis in die heutige Zeit in wissenschaftlichen Unternehmungen wie in politischen Debatten fortwirken.