Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Europäische Ethnologie

Bernd Jürgen Warneken: Cyberprotest und Straßenprotest. Kein Vergleich

Bericht über den Vortrag im Institutskolloquium am 3. Februar 2015; von Heiko Niebur und Dinah Riese

Straßenprotest werde bald keine Relevanz mehr haben, so die Meinung des Critical Art Ensembles im Jahr 1996. Dies ist eine Aussage, der Bernd Jürgen Warneken in seinem Vortrag „Cyberprotest und Straßenprotest. Kein Vergleich“ am 03.02.2015 etwas entgegenzusetzen hatte.

„Das Kulturmuster der Straßendemos ist auch heute noch interessant“, sagte Warneken. Er bezog sich damit auf Prof. Kathrin Fahlenbrach, die 2009 formuliert hatte, Straßenproteste würden im Zeitalter der Globalisierung paradoxerweise eine Renaissance erleben.

Paradox scheint dies, da beispielsweise die Neuen Medien transnationale Netzwerke und damit auch neue Formen der Protestkultur ermöglichen – so zum Beispiel den so genannten „Cyberprotest“, der keinen physikalischen Raum zu brauchen scheint.

Unter dem Stichwort „Slacktivism“ erklärte Warneken den neuen Trend von zum Beispiel Online-Petitionen, bei denen das politische Engagement mit wenigen Mausklicks erfolgen kann. Eine große Wirkung hätten diese Petitionen allerdings selten.

Proteste sollten nicht nur nach außen wirken, sondern im besten Fall den Adressaten direkt erreichen, sagte Warneken. Früher waren dies zum Beispiel die Politiker_innen im Reichstag. Heute seien die Machtzentren dezentral und abstrakt in den „spaces of flow“ organisiert. Trotzdem seien die „Bedienungsmannschaften“ der Macht lokal und körperlich anwesend – und zudem auf den blockierbaren Straßenverkehr angewiesen, etwa in der EZB oder an der Wall Street. Deswegen wurden z. B. beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm viele Millionen Euro investiert, um das Treffen mit einem kilometerlangen Zaun abzuriegeln.

Der Straßenprotest oder das Protestcamp bieten eine intensive sinnliche und soziale Erfahrung, die aus dem gemeinsamen körperlichen Vollzug entstehe. Warneken zog eine Analogie zu einem von der SPD organisierten „Sonntagsspaziergang“ im Deutschen Kaiserreich, bei dem die Arbeiter_innen sich den Bürgersteig „temporär aneigneten“ und so dessen geforderte zukünftige Nutzung als öffentlichen Raum vorwegnahmen. Dieses transzendiere Element nennt der Ethnologe und Anarchist David Graeber „direkte Aktion“.

Straßenproteste stellen der Beschreibung Warnekens zufolge einen „Akt des sich Gleichmachens“ sowohl nach innen als auch nach außen dar. Die Entinidividualisierung und das Aufgehen in der Masse einerseits und die sinnliche Erfahrung der Übereinstimmung sowie die gemeinschaftlicher Wahrnehmung der Bürgerrechte andererseits bezeichnete er im Vortrag als die „Dialektik des Kollektiv- und Subjektwerdens“. Trotzdem bleibe ein Binnenpluralismus erhalten, das „Gleichmachen“ ist in diesem Kontext als Prozess zu verstehen, der heterogene Menschen temporär für ein gemeinsames Ziel zusammenbringt. Diese kollektive Erfahrung beschrieb Warneken auch als „Lust auf Konfluenz“.

Mit diesem Vortrag schloss Warneken an seine anderen Arbeiten  zu Themen wie Körpereinsatz als Mittel der Kommunikation, Popularkultur und Protestkulturen an.