Über die Landesstelle für Alltagskultur
Die Berlin-Brandenburgische Landesstelle für Alltagskultur
Die Landesstelle für Alltagskultur ist eine universitäre Forschungsstelle und Archiv am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Archive und Sammlungen der Landesstelle umfassen Bestände zur Geschichte der Volks- und Völkerkunde seit dem frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Als Teil des bundesweiten Netzwerkes der (außer)universitären Landestellen in Deutschland und diverser Verbände in Berlin und Brandenburg, wie dem Netzwerk Alltagskultur Ost, arbeitet die Landesstelle an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten: dem universitären Alltag von Forschung und Lehre am Institut, den Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Zentrum für Kulturtechnik, sowohl als auch im Dialog mit interdisziplinären und (inter)nationalen WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und interessierten BürgerInnen. Die Landesstelle archiviert und dokumentiert die Bestände der Volks- und Völkerkunde sowie der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, öffnet diese aber auch für künstlerische und wissenschaftliche Forschungen. Die Landesstelle verfolgt einen wissenschaftskritischen Ansatz, der gegenwärtige und historische Wissenschafts- und Archivpraktiken in deren epistemischen und ideologischen Kontexten betrachtet. Praktiken des Archivierens, Ordnens und Kategorisierens sollen dabei selbst hinterfragt und erforscht werden, u.a. mit Hinblick auf die Institutionalisierung und Instrumentalisierung von Wissen zur Zeit des Nationalsozialismus und der DDR. Die Landesstelle versteht sich somit als Para-Institution des Instituts für Europäische Ethnologie, die ihre eigenen Logiken und Infrastrukturen reflektiert und diskutiert. Zu diesem Zwecke organisiert die Landesstelle Gesprächsreihen, Workshops, Konferenzen und „Tage des Offenen Archivs". Die Landesstelle ist in die universitäre Lehre eingebunden und bietet Seminare für Studierende an. Sie ist ebenfalls in den Amo Ausstellungsraum am Institut für Europäische Ethnologie eingebunden und führt eigene kuratorische Projekte durch. Es stehen Arbeitsplätze für GastwissenschaftlerInnen zur Verfügung.
Im Dialog mit dem Forschungsbereich Museums and Heritage Research des IfEEs befindet sich die Landesstelle momentan im Auf- und Ausbau. Sammlungsbestände werden konsolidiert und zusammengeführt und die Räumlichkeiten der Landesstelle für Forschung und Recherche neu hergerichtet. Die digitale Präsenz der Landesstelle wird ebenfalls sowohl in den universitären Sammlungsportalen und hier auf der Website des Instituts für Europäische Ethnologie aktualisiert und überarbeitet. Wir bitten um Verständnis, dass nicht alle Informationen - insbesondere die Datenbank der Landesstelle - sofort digital verfügbar sind. Rechercheanfragen können aber jederzeit gestellt werden und auch die Archive können auf Anfrage genutzt und besichtig werden.
Der Sammlungsbestand
Die Berlin-Brandenburgische Landesstelle für Alltagskultur umfasst Bestände des ehemaligen Instituts für Volkskunde (später Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde) an der Akademie der Wissenschaften der DDR und des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin. Langjährige Forschungsprojekte, Fragebogenaktionen und historische Recherchen diverser WissenschaftlerIinnen und Forschungsgruppen sind ebenfalls archiviert.
Die Sammlungen der Landesstelle beinhalten u.a. das Archiv für Alternativkultur, das Hahne-Niehoff Archiv, das European HIV/AIDS Archiv (EHEAA), das Archiv der Flucht, Vor- und Nachlasse namenhafter ForscherInnen der Volkskunde und Europäischen Ethnologie (darunter Richard Beitl, Wolfgang Steinitz, Frederick Rose, Ute Mohrmann, Wolfgang Kaschuba uvm.). Einige der Archive und Sammlungen sind Teil der Universitätssammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin und somit auch verbunden mit der Sammlungsausstellung im Humboldt Labor im Humboldt-Forum.
Vielfältige Unterlagen geben Auskunft über die Erfassungs- und Fragebogenaktion „Alte Bauten im neuen Dorf“ (1962-1968) zur Erforschung historischer Gebäude und Siedlungen auf DDR-Gebiet vor der sozialistischen Umgestaltung auf dem Lande. Weitere Archivalien begleiten den Prozess der „Akademiereform“, der neugebildeten Struktur „Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde“ unter dem Blickwinkel des sich formierenden Forschungsansatzes „Kultur und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten“ seit den 1970er Jahren. Einbezogen in den Bestand sind ebenfalls die Unterlagen zum organisatorischen und inhaltlichen Ablauf des Fernstudiums Deutsche Volkskunde am Bereich Ethnographie/Sektion Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin seit Mitte der 1960er-Jahre. Es ist ebenfalls ein Bildarchiv mit mehreren zehntausend Fotos von traditionellen Gerätschaften aus allen Zweigen des häuslichen und ländlichen Arbeitens vorhanden. Dieses resultiert aus den langjährigen Forschungsschwerpunkt des Akademie-Instituts zur bäuerlichen Wirtschaft und Sachkultur.
Im Juni 2001 wurde dem Archiv der Nachlass von Richard Beitl (1900–1982) aus seiner Berliner Zeit übergeben. Darunter sind wertvolle – teilweise noch nicht ausgewertete – Untersuchungen zur Region Berlin-Brandenburg aus den 1930er-Jahren sowie von mehrjährigen Feldforschungen mit Studiereden im Flämingdorf Rosenthal bei Dahme. Im Nachlass befinden sind weiterhin Erhebungen zu Kinderspielen und -reimen in Schulen des Stadtbezirks Steglitz. Reinhard Peesch, langjähriger Mitarbeiter von Beitl in diesen Jahren, setzte diese Untersuchungen zum Kinderspiel an Berliner Schulen in den 1950er-Jahren fort.
Geschichte
Von 1995-2025 bestand am Institut für Europäische Ethnologie als wissenschaftliche Abteilung die Landesstelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde. Sie verortete sich programmatisch zwischen dem theoretischen Instrumentarium der Europäischen Ethnologie, dem Profil einer empirisch arbeitenden Forschungseinrichtung mit regionalem Schwerpunkt und dem Aufgabenfeld praktischer Servicefunktionen. Zwischen 1995 und 2025 bot die Landesstelle mit ihren Workshops ein Forum an, das MuseologInnen und FachwissenschaftlerInnen zur interdisziplinären Diskussion zusammenführte. Die mittlerweile in Form von Arbeitsheften dokumentierten Veranstaltungen widmeten sich der „Wiederkehr des Regionalen“, den Sammlungs- und Präsentationsstrategien von DDR-Produktkultur in der Gegenwart, den Transformationsprozessen in der ostdeutschen Landwirtschaft oder dem praktischen Selbstverständnis volkskundlicher Museen. Besonderes Engagement galt auch dem Komplex der brandenburgischen Industrie- und Technikmuseen. Gemeinsam mit den betroffenen Initiativen und Projekten, dem Museumsverband und dem zuständigen Kulturministerium wurden hier tragbare Lösungsansätze entwickelt und vom neu geschaffenen Verein „Brandenburgische Museen für Technik, Arbeit und Verkehr e. V.“ koordiniert.
2025 wurde die Landesstelle umbenannt in Berlin-Brandenburgische Landesstelle für Alltagskultur. Im Sinne der public anthropology und im Dialog mit dem Amo Kollektiv, den Laboren und Professuren am Institut für Europäische Ethnologie wird die Landesstelle als ein öffentliches Labor für Kooperationen mit KünstlerInnen, KuratorInnen und WissenschaftlerInnen auf- und ausgebaut. Die Sammlungsbestände werden überprüft und für ForscherInnen zugänglich gemacht. Mehrere Arbeitsplätze werden vor Ort vorbereitet und die digitale Präsenz der Sammlungen wird überarbeitet.
Ansatz, Forschung und Kooperation
Die Landesstelle versteht sich nicht reines Dokumentations- oder Servicezentrum, sondern als eine aktive Forschungsstelle, die sich Fragen des Archivieren, Dokumentieren, Digitalisieren und Recherchieren anthropologisch und wissenschaftsgeschichtlich und -kritisch widmet. Die Archive und Sammlungen der Landesstelle geben Aufschluss über die Wissensgeschichte und -produktion der Volkskunde und Europäischen Ethnologie in Berlin, Brandenburg, Deutschland und der DDR. Dabei greift die Landesstelle auf Ansätze zum schwierigen Kulturerbe, sensiblen Sammlungen und „unangenehmen" Archiven zurück, die sich den ethisch unklaren und ideologisch geprägten Spuren und Strukturen von Archiven und Sammlungen widmet. Wir kooperieren hierzu eng mit der zentralen Sammlungskoordination und dem Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin.
Im Sinne der microstoria, der kritischen Wissenschafts- und Technologieforschung (STS) und der Akteur-Netzwerk Theorie wird in den kommenden Jahren zudem weiter die Materialität, die Ordnung von Wissen, persönliche Biografien und Verflechtungen sowie die digitale Dateninfrastruktur der Landesstelle reflexiv und kritisch aufgearbeitet. Die Aufarbeitung der Archive und Sammlungen soll somit auch eine reflexive Praxis des Archivierens von Wissenschaft für die Zukunft des Instituts anstoßen.
Die Landesstelle verfolgt einen multimodalen und kollaborativen Ansatz, der sich kreativen, künstlerischen und kuratorischen Methoden der Analyse, Darstellung und Vermittlung von anthropologischer Forschung öffnet. Die Archive und Sammlungen der Landesstelle stehen in insbesondere für Forschungs(an)fragen und Kooperationsprojekte von und mit Studierenden, MitarbeiterInnen und WissenschaftlerInnen des Instituts für Europäische Ethnologie sowie der Humboldt-Universität zu Berlin zur Verfügung. In Kooperation mit dem Amo Kollektiv arbeitet es u.a. an einer dekolonialen Perspektive auf Archivierungs- und Sammlungsprozesse. Die Landesstelle arbeitet zudem kontinuierlich in Kooperationsprojekten mit internationalen Partnern, wie dem Pitt-Rivers Museum in Oxford, dem Kunsthistorischen Institut der Max Planck Gesellschaft sowie der Künstlerresidenz Villa Romana in Florenz und steht offen für Forschungsanfragen und Kooperationsprojekte.
Fellowships
Die Landesstelle für Alltagskultur wird in den kommenden Jahren Fellowships in Kooperation mit Berliner Kulturinstitutionen einrichten, die es ForscherInnen, KünstlerInnen, KuratorInnen und JournalistInnen erlauben soll, für eine bestimmte Zeit an der Landesstelle zu forschen. Mehr dazu in Kürze.
Aktuelle Ausstellungen, Projekte und Veranstaltungen
Im Rahmen des Auf- und Ausbaus der Landesstelle finden bereits im Sommersemester 2025 eine Reihe von Veranstaltungen statt, u.a. im Institutskolloquium des Instituts für Europäische Ethnologie. Am 22.4. moderiert Jonas Tinius das Gespräch "Can Institutions Function as Infrastructures of Solidarity" mit Michal Murawski (UCL) und Paz Guevara (HKW), das u.a. die Publikation "The Museum of Friendship" (Chicago, 2025) vorstellt. Am 29.4. spricht Jonas Tinius über die Arbeit der Landesstelle ("Zwischen Utopie und Alltag"). Am 20.5. stellt Dan Hicks (Oxford) sein neues Buch "Every Monument Will Fall" (Penguin, 2025) im Gespräch mit dem Juristen Kojo Koram, der Künstlerin Nora Al-Badri und dem Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung vor. Am 20.6. spricht Jonas Tinius mit dem Künstler Lorenzo Sandoval, um die Kooperation und Dauerleihgabe der "narrative machine series", einer Reihe von funktionalen künstlerischen Instrumenten und Gegenständen, die der Landesstelle in Zukunft für Ausstellungen und künstlerische Inverventionen im Archiv zur Verfügung stehen werden, zu präsentieren.
Im Oktober 2025 wird die Landesstelle als Teil des Workshops "Styles of Experimentation. Unsettling the Anthropological Curriculum", organisiert vom EASA Netzwerk colleex gemeinsam mit dem Stadtlabor für Multimodale Anthropologie, Kunstwerke, Videos, und Installationen des Künstlers Lorenzo Sandoval zeigen. Ausgewählte Werke aus der künstlerisch-kuratonische Installation und Reihe "narrative machines", die sowohl als Sitzgelegenheiten, Kunstwerke, Ausstellungsinstrumente und kuratorische Intervention fungieren, werden der Landestelle für Alltagskultur als Dauerleihgabe übergeben. Die Reihe "narrative machines" wird zudem im September 2025 in einer Ausstellung im Georg-Kolbe Museum in Berlin in Kooperation mit der Künstlerresidenz Villa Romana in Florenz zu sehen sein.
Zwischen Juni und Oktober 2025 finanziert die Oxford-Berlin Research Partnership ein Forschungsprojekt mit Paul Basu, Professor für Sozialanthropologie und Kurator am Pitt-Rivers Museum in Oxford. Das Projekt soll die Verbindungen postindustrieller, universitärer Peripherien erkundigen und wird in Kooperation mit dem Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt ein multimodales Projekt anstoßen.
Kontakt
Leitung: Dr. Jonas Tinius
Mitarbeit: Heike Zappe
Sitz: Anton-Wilhelm-Amo-Str. 40/41 (ehemals Møhrenstraße), 10117 Berlin
Archivmaterial: "Fehlbelichtet" (Objekt; Trebitz (Ort); vor 1945), Sammlungsbereich: HU Hahne-Niehoff-Archiv, Sammlungen Online des Humboldt Forums. Ausgestellt in HU01 Nach der Natur, HU01 02 Hauptsaal - Moderne Wunderkammer, HU01 02 04 Drei Archive im wechselseitigen Blick. © Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Europäische Ethnologie, Hahne-Niehoff-Archiv, Berlin-Brandenburgische Landesstelle für Alltagskultur, Foto: Anna Duda (2020)
Anmerkung: Im Hahne-Niehoff-Archiv sind einige stark über- bzw. unterbelichtete Kleinbildfilme überliefert, die nichts bzw. nur Schemenhaftes zeigen. Sie stehen im Widerspruch zur Aufgabe von Foto-Archiven: Sie eigneten sich weder für bildbezogene Recherchen noch als Bildbelege in Publikationen, Ausstellungen etc. Warum wurden solche Aufnahmen dann nicht weggeworfen, sondern stattdessen sorgfältig beschriftet und auf bewahrt? Eine Antwort könnte sein, dass diese Filme als Nachweis für die fotografische Forschungsarbeit vor Ort dienten. Zugleich folgt ihre Aufbewahrung der generellen Logik von Sammlungen, die immer Vollständigkeit anstreben.